Herr Terjung, Sie sind evangelischer Seelsorger an der Unikinderklinik Freiburg. An welchen Erkrankungen leiden die Kinder auf Ihrer Station?

Unsere Station behandelt Kinder mit angeborenen Herzfehlern direkt nach der Geburt und im weiteren Lebensverlauf. So haben wir auch Erwachsene als Patienten, die an einem angeborenen Herzfehler leiden. Manche Kinder und deren Eltern begleite ich schon über Jahre.

Wie nehmen Eltern die Nachricht auf, dass ihr Kind schwer krank ist und nur eine begrenzte Lebenserwartung hat?

Wenn in der Schwangerschaft klar wird, dass Kinder einen schweren Herzfehler haben, dann haben die Eltern meist schon eine Ärzte-Odyssee hinter sich, bevor sie bei uns landen. Die Gynäkologin, unser kardiologischer Oberarzt und ich als Seelsorger sprechen dann mit den Eltern, denn es ergeben sich ja nicht nur medizinische Fragen, sondern auch menschliche: Wie können wir es als Eltern schaffen, diesen Weg zu gehen? Sind wir dafür bereit, oder welche anderen Möglichkeiten gibt es? Und oft kommt auch die Schuldfrage auf: Warum haben gerade wir ein so herzkrankes Kind?

In unmittelbarer Nähe zum Herz-OP liegt die Intensivstation. Dort herrscht Hektik, wenn Ärzte um das Leben eines Kindes kämpfen. Welche Rolle haben Sie in dieser unübersichtlichen Lage?

Meistens werde ich parallel übers Handy verständigt: „Jens, es gab einen Notfall. Kannst du herkommen und dich um die Eltern kümmern?“

Im Notfall melden sich seine Kollegen auf dem Handy: Seelsorger Jens Terjung aus Freiburg.
Im Notfall melden sich seine Kollegen auf dem Handy: Seelsorger Jens Terjung aus Freiburg. | Bild: Theo Hofsäß/Uniklinik Freiburg

Wie gehen Sie auf die Eltern zu?

Die Eltern sitzen draußen auf dem Flur und machen sich größte Sorgen. Einfacher ist es für mich, wenn ich sie schon kenne. Während das Kind operiert wird, bin ich zunächst der Mittler zwischen der Station und ihnen. Ich gehe immer wieder zu den Ärzten in den OP und frage, ob ich den Eltern einen Zwischenstand geben kann, damit sie nicht so im luftleeren Raum hängen. Mit den Informationen kehre ich dann zu den Eltern zurück.

Was tun Sie, wenn sich abzeichnet, dass das Kind sterben wird?

Wenn absehbar ist, dass das Kind nicht überlebt, werden die Eltern in der Regel dazu genommen, damit sie sehen, wie die Ärzte um ihr Kind kämpfen. Ich halte den Ärzten dann den Rücken frei und kümmere mich in dieser letzten Phase um die Eltern, aber auch um Großeltern und Geschwisterkinder. Ich betreue sie auch, wenn ihr Kind gestorben ist.

Wie erleben Sie die Eltern dann?

Ich erlebe alles. In einem Fall war ein Jugendlicher beim Sport zusammengebrochen. Er konnte auch auf der Intensivstation nicht mehr gerettet werden. Die Eltern haben nur geschrien, und die Schwester hat immer nur gesagt: ‚Nein, nein, er ist nicht tot, er lebt noch. Gucken Sie, er atmet noch.‘ Ich habe versucht, ganz ruhig zu bleiben und habe zu ihr gesagt: ‚Das stimmt leider nicht. Ihr Bruder ist gestorben. Sollen wir noch einmal genau hinschauen, ob er noch atmet?‘ Die Angehörigen müssen den Tod erst begreifen.

Wie ist es, wenn sie verstummen und gar nichts sagen?

Wenn Menschen verstummen, ist das viel schwieriger, und ich muss sehr viel mehr erspüren, ob ich erwünscht bin. Wenn ich sie frage, und sie allein sein möchten, bleibe ich im Hintergrund – auch um das Personal zu unterstützen, die manche Patienten seit Jahren kennen. Ich bin eine Art Lotse, der die Menschen ein Stück weit an die Hand nimmt und durch die ersten Schritte begleitet. Die Eltern sind mit der Situation völlig überfordert, wie könnte es auch anders sein. Meistens nehmen sie meine Hilfe sehr dankbar an.

Wir sprachen über die Hektik, die vielen Patienten auf Station. Wie kann das Abschiednehmen trotzdem gelingen?

Die Regeln auf der Intensivstation sind sehr streng. Doch in einer solchen Situation gelten viele Ausnahmen. Die betroffene Familie ist sehr bedürftig, aber gleichzeitig muss der Alltag an den anderen Betten auf Station ja weitergehen. Wenn wir Platz haben, bringen wir das Kind in ein Einzelzimmer, damit die Angehörigen in Ruhe Zeit für sich haben. Wenn wir voll belegt sind und das Kind in einem Viererzimmer liegt, bitten wir die anderen Eltern, später zu kommen. In der Klinik gibt es auch Abschiedsräume, wo die Angehörigen ganz für sich sind und die auch nicht wie ein Behandlungszimmer aussehen.

Blick in den Abschiedsraum für Familien.
Blick in den Abschiedsraum für Familien. | Bild: Jens Terjung

Sie begegnen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, vom Arbeiter bis zum Anwalt oder Universitätsprofessor. Wie reagieren diese auf Ihre Gesprächsangebote?

Die Reaktionen sind durchaus unterschiedlich, die Sprache und die Ausdrucksweise auch, aber das Bedürfnis zu reden, ist meist groß. Wer sich gut ausdrücken kann, kann mir auch gut schildern, wo er gerade mit seinen Gedanken ist, was ihn belastet. Manche sprechen darüber auf der intellektuellen Ebene mit vielen medizinischen Details.

Manche weinen, zeigen ihren Schmerz und brauchen jemand, der sie auffängt und in den Arm nimmt. Eine muslimische Mutter, die ich viele Monate begleitet habe, sagte zu mir: ‚Wissen Sie, in meiner Kultur ist es nicht üblich, dass ich mich als Frau einem fremden Mann anvertraue und so viel Persönliches mit ihm bespreche. Aber mit Ihnen passt das.‘

Wie knüpfen Sie Kontakt zu den erkrankten Kindern?

Kinder wollen anfangs oft gar nicht so sehr über ihre Erkrankung reden. Ihr Vertrauen zu gewinnen, ist noch weniger selbstverständlich als bei den Eltern. Kinder sind auch viel ehrlicher und direkter. Wen sie nicht mögen, den schicken sie weg.

Ist Ihnen das mal passiert?

Nein, eigentlich nicht. Wir hatten ein sechs Monate altes Kind auf Station, bei dem sich erst bei uns herausgestellt hat, dass es schwer herzkrank ist und die Herztransplantation als einzige lebensrettende Maßnahme in Frage kommt. Die Eltern haben geweint und waren verstört, als sie mit dieser harten Diagnose konfrontiert wurden.

Das Kind hat die Verzweiflung seiner Eltern gespürt, und jeder, der das Zimmer betreten hat, war bedrohlich. Bei unserem ersten Kontakt habe ich mich mit Abstand zum Vater und dem Kind hingesetzt, die Mama kam später dazu, wir hatten ein gutes Gespräch – und das Kind hat das erste Mal gelacht. Seitdem strahlt es, wenn ich ins Zimmer komme. Das berührt mich sehr. Doch wenn ein Kind mich wegschicken möchte, ist das natürlich immer in Ordnung.

Kinder sind im Angesicht des eigenen Todes oft viel klarer als die Eltern. Wie erleben Sie das?

Manche Eltern wollen nicht, dass wir mit dem Kind über den bevorstehenden Tod sprechen. Doch in der Regel wissen die Kinder das, denn es ist ihr Körper. Ob sie darüber reden möchten, überlassen wir ihnen. Ich frage dann meist: ‚Gibt es sonst noch etwas, was dich beschäftigt? Denkst du manchmal darüber nach, wie dein Leben weitergeht?‘ Falls es nicht reden möchte, ist das absolut okay. Doch wenn wir gefragt werden: ‚Werde ich sterben‘, dann beantworten wir die Frage auch ehrlich, selbst, wenn die Eltern das nicht möchten. Hier ist uns das Patientenwohl wichtig, und dass wir ehrlich mit den Kindern sind.

Stellen die Kinder Ihnen diese Fragen, weil sie die Eltern schützen wollen?

Ja, durchaus. Kinder suchen sich andere Ansprechpartner, weil sie wissen, dass ihre Eltern traurig sind, wenn sie ihnen diese Fragen stellen.

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Wie ändert sich das Erleben, wenn die Eltern merken, dass sie nur noch begrenzt Zeit mit ihren Kindern haben?

Auch das ist sehr individuell. Wir versuchen die Eltern so gut, wie es geht, auf diesen Weg vorzubereiten. Wenn die Kinder noch nach Hause gehen können, bekommt die Familie Unterstützung durch ein Kinderpalliativ-Team. Telefonisch bleibe ich weiter gut für die Familien erreichbar und manchmal mache ich auch einen Hausbesuch. Und keiner von uns wird sich festlegen, wie lange ein Kind noch zu leben hat. Die große Aufgabe der Eltern liegt darin, dass sie bei allen Fragen nicht die Gegenwart, den jetzigen Moment aus dem Blick verlieren. Denn jetzt, heute ist Leben.

Was erzählen die Eltern, wie sie sich von Freunden und Bekannten in dieser besonderen Situation aufgefangen fühlen?

Da höre ich leider immer wieder, wie überfordert das Umfeld ist, wenn der Tod im Raum steht, aber oft auch, wenn eine schwere Diagnose gestellt wurde. Eine Mutter, die kürzlich ihr Kind zur Welt gebracht hat, bei dem die Krankheit in der Schwangerschaft festgestellt wurde, erzählte mir von Reaktionen, wie: ‚Ich habe auch mal ein herzkrankes Kind gekannt, das ist nach einem halben Jahr gestorben.‘

Gerade wenn Kinder sterben, stellt sich die Frage nach dem ‚Warum‘? Wie erklären Sie einen Gott, der das Sterben von Kindern zulässt?

Dafür gibt es keine Worte. Es macht mich immer wieder sprachlos, wie ungerecht gehäuft das Leid manchmal verteilt ist. Ich frage auch dann, Gott, reicht es nicht? Doch alle, die diese Frage stellen, sind mit einer Antwort nicht zufrieden. Es gilt eher, dieses Hadern mit Gott auszuhalten. Ich kenne Menschen, die sagen, mit dem da oben möchte ich nichts mehr zu tun haben. Das schmerzt mich schon. Aber ich respektiere es. Sie brechen mit Gott, aber ich darf sie trotzdem weiter begleiten. Und darüber freue ich mich.

Seit Ende September ist die neue Unikinder- und Jugendklinik Freiburg eröffnet.
Seit Ende September ist die neue Unikinder- und Jugendklinik Freiburg eröffnet. | Bild: Faruk Pinjo

Seit über 20 Jahren organisieren Sie und Ihr Team im November einen Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder. Wie finden Sie die richtigen Worte?

Dieser Gottesdienst ist eine besondere Herausforderung, denn das Reden von Gott im Angesicht des Todes so vieler verstorbener Kinder muss sehr behutsam sein. Die Menschen brauchen eine Botschaft, und das ist jedes Mal eine große Aufgabe. Der Teil, wenn minutenlang die Namen aller verstorbenen Kinder verlesen werden, berührt mich am meisten – zu hören, wie viele Kinder verstorben sind und sich vorzustellen, dass hinter jedem Namen ein einzigartiger Mensch steckt, der nur so wenig vom Leben haben durfte.