Der Mensch, dessen Tod den Anfang einer Epoche markiert, wird für uns namenlos bleiben. Am 11. Januar 2020 verkünden chinesische Behörden sein Ableben. Angeblich war es ein 61-jähriger Mann. Er ist der weltweit erste offizielle Corona-Tote. Und damit ging das ganze Elend los.
In einem SÜDKURIER-Bericht jener Tage wird der Direktor des Seuchenkontroll-Zentrums im später berüchtigten Wuhan mit den Worten zitiert, der Ausbruch könne gut eingedämmt werden. „Genau das bezweifeln jedoch immer mehr Experten“, schiebt unser China-Korrespondent Fabian Kretschmer als Einordnung hinterher. Er hatte leider allzu sehr recht damit.
Fünf Jahre ist das nun her. Schemenhaft hat man noch im Kopf: Lockdown im März 2020, freierer Sommer, noch schlimmerer Winter 2020/21, dann mal Impfungen und irgendwann war das durchgestanden. So schrumpft die Epoche zur Episode zusammen, Hauptsache wir haben es hinter uns, scheinbar vergessen. Und genau damit schaden wir uns selbst.
Wir haben verdrängt, wie wütend wir waren
Jens Spahns Aussage „Wir werden einander viel verzeihen müssen“ ist zwar schon reichlich ausgewalzt worden, aber sie trifft einen Punkt. Nicht in allem, schon allein im „müssen“ nicht, Verzeihen muss man wollen. Aber wir haben einfach nur verdrängt. Wir haben verdrängt, wie wütend wir waren und wir haben verdrängt, wie schlecht es uns ging. Gesund ist das nicht.
Denn kaum jemand kann behaupten, nicht wütend gewesen zu sein in diesen Coronajahren. Wütend über Grenzschließungen, Ausgangssperren und Kontaktverbote. Über Maskenpflicht oder Maskenmuffel. Über Impfterminsuche oder Impfdruck. Über unnötige Verschärfungen oder frühzeitige Lockerungen. Über Regelbrecher oder Denunzianten. Über geraubte Jugend und einsame Tode.
Viele mussten es einfach hinnehmen
Hier gibt es ein Problem, das eine ernstzunehmende öffentliche Aufarbeitung zumindest erschwert: Politiker, aber auch wir Journalisten, vergessen teilweise, wie privilegiert unsere Lage war: Weil wir immer unsere Meinung zu Corona-Maßnahmen öffentlich äußern konnten, weil wir uns Luft machen konnten. Politiker konnten die Regeln sogar direkt beeinflussen.
Der allergrößte Teil der Bevölkerung dagegen musste die schwersten Grundrechtseinschnitte in der Geschichte der Bundesrepublik einfach hinnehmen. Austauschen konnte man sich maximal noch im Privatleben. Allerdings war ja selbst das beschnitten, die Geselligkeit verboten und ein Streit bei diesen Themen fast vorprogrammiert.

So blieb manchem nur das Internet. Hier findet man immer jemanden, der einem zuhört, und vor allem immer jemanden, der einem zustimmt. Und manch einer verfiel der Sucht nach der Süße der Bestätigung und glaubte am Ende krude Dinge, ging für Ansichten auf die Straße, die er ein paar Monate vorher noch klar als Unfug erkannt hätte. Und die er vielleicht auch später wieder als solchen erkannte. Doch da war er von seinem Umfeld längst als Corona-Spinner abgetan.
Haben wir diesen Menschen verziehen? Sollten wir es?
Die Wut auf die Politik
Und dann waren da noch die Politiker. Sie verkündeten Maßnahmen, für die es keine wissenschaftlichen Belege gab. Es konnte sie zu frühen Zeitpunkten der Pandemie auch einfach nicht geben, weil sie in ihrem Ausmaß unvergleichlich war.
Sie verkündeten sie aber mit der Behauptung, es gebe sie. So hielt es die Landesregierung von Winfried Kretschmann bei den Ausgangssperren. Mediale Kritik daran, etwa vom SÜDKURIER, nahm man in Stuttgart als Affront wahr. Das ist etwas, was mich als Journalist, aber auch als Bürger, bis heute wütend macht.

Aber: Warum handelten die Politiker so? Aus Herrschsucht? Zur Wahrheit gehört, dass es sich um kaum kontrollierbare Maßnahmen handelte. Die nur dadurch wirken konnten, dass die Menschen von ihnen überzeugt waren und natürlich war Kritik da eine Gefahr – zumal ja genau so wenig bewiesen war, dass sie unwirksam wären. Zwar sollte sich ein Demokrat im Zweifel immer für die Freiheit entscheiden.
Einige Politiker haben es trotzdem anders gemacht. Verzeihen wir ihnen?
Dann gibt es noch die Kriminellen. Die Subventions- und die Testbetrüger. Zwei Milliarden Euro Schaden allein durch Testbetrug, davon geht das Bundeskriminalamt aus. Und vermutlich ist es noch viel mehr. Es gibt wohl tausende Menschen in der Bundesrepublik, die sich während Corona durch Abrechnungsbetrug mit nie erfolgten Tests bereichert haben.
Viele Taten verjähren im kommenden Jahr, die Täter werden in aller Regel ungestraft bleiben. Verzeihen wir ihnen?
Die Vergessenen und Verlorenen
Vor allem aber bleiben da die Vergessenen, die Verlorenen und die Verstorbenen. Die vielen, kaum einmal erwähnten Menschen, denen nicht die Viren, aber umso mehr die Pandemie-Umstände zusetzten, die durch Ungewissheit und Einsamkeit aus der Balance gebracht wurden.
Dazu diejenigen, für die Covid eben nicht nur eine Grippe war, sondern eine langwierige Krankheit, die Zehntausende Deutsche bis heute nicht loslässt. Die nicht ganz so vielen, aber doch ernst zu nehmenden Menschen, die nach einer Impfung Probleme bekamen.
Und, vor allem: 185.000 Deutsche, die an oder mit Corona gestorben sind. Zweimal die Einwohnerzahl von Konstanz oder siebenmal Waldshut oder Überlingen: tot. Ihnen allen raubte eine sinnlose Krankheit viele glückliche Tage, Wochen, Jahre. An sie, an die Verstorbenen und die Leidenden, erinnert kein Mahnmal, kein Gedenktag.
War es nur ein Betriebsunfall?
Wir scheinen uns als Gesellschaft darauf geeinigt zu haben, dass sie einfach nur Opfer eines Betriebsunfalls der Geschichte geworden sind, ohne besonderes Recht auf Würdigung. Wir wollen alles vergessen und vergessen die Betroffenen gleich mit. Verzeihen wir uns das?
Es wäre ein Fehler. Und wir dürfen die Frage nach Schuldigen nicht ganz vergessen. Nein, nicht wegen der Politiker. Untersuchungsausschüsse, ja, das klingt gut. Doch wer interessiert sich für diese teuren Veranstaltungen tatsächlich? Wo doch eh jedem klar ist, dass selbst höchst streitbare Politiker mit Verweisen auf „hochdynamische Pandemiesituation“ und „widersprüchliche Faktenlage“ irgendwelche Schlupflöcher finden werden. Das macht alles nicht besser.
Denn vielleicht gibt es ja viel mehr Schuldige – uns alle. Denn es gab sie, ganz am Anfang der Pandemie, diese wenigen Wochen des echten Zusammenhaltes.
Als Jüngere für Ältere einkaufen gingen, als Menschen Masken nähten, als Leute für ihre dicht gemachten Lieblingskneipen spendeten. Wir stapften durch Wälder und Wiesen und träumten von einer entschleunigten Nach-Corona-Welt. Wir saßen allein in unseren Wohnungen und trösteten uns: Wenn wir das alles hier überstehen, dann wird das, was danach kommen wird, grandios sein.
Der Zukunftsforscher Matthias Horx entwarf in diesen blendend schrecklichen Tagen ein Post-Corona-Szenario. Eine SÜDKURIER-Kollegin fasste es damals zusammen, jetzt nicht lachen: „Die Menschen besinnen sich wieder auf das Miteinander, Familie bekommt einen höheren Stellenwert, ebenso wie gesellschaftliche Höflichkeit. WhatsApp wird von Anrufen verdrängt, Fake News werden nicht mehr unreflektiert weitergegeben.“
Naja, seine Glaskugel war wohl etwas trübe. Fünf Jahre später ist die Welt ein Schrotthaufen. Wir fliegen um die Erde, als wäre nichts gewesen. Bei Wahlen geben Menschen dem Hass ihre Stimme, die Solidarität haben wir vergessen. Wir haben es überstanden und nichts ist grandios geworden.
Umso mehr müssen wir sprechen über die Corona-Zeit, darüber, was wir entschuldigen wollen und was nicht. Wir müssen erinnern an diejenigen, die gelitten haben oder bis heute leiden. Und wir müssen uns fragen, wie alles so schrecklich schiefgehen konnte seit Corona. Alles andere wäre unverzeihlich.