Die Pariser Kirche Saint-Séverin trägt noch keinen vorweihnachtlichen Schmuck an diesem kalten Abend im November, aber das Lied, das in dem gotischen Bau ertönt, verströmt feierliche Stimmung. Ein Chor, bestehend aus ein paar Dutzend Männern und Frauen, probt das Lied „Cantique de Jean Racine“ von Gabriel Fauré, „Gesang von Jean Racine“.
Das getragene Werk mit seinem ruhigen Rhythmus erschien den Chorleitern festlich genug für einen besonderen Anlass: die Messe am 11. Dezember in der Kathedrale Notre-Dame, kurz nach ihrer Wiedereröffnung am 7. Dezember.
Fünfeinhalb Jahre nach dem schweren Brand können Besucher demnächst das wiederhergestellte Innen-Antlitz der berühmten Kathedrale, die nur einen Steinwurf von der Kirche Saint-Séverin entfernt liegt, bestaunen: die in frischem Glanz erstrahlenden Farben der Gemälde, die weißen Wände, die restaurierten Fenster, durch die mehr Licht fällt als zuvor.
„Der Blick, der sich eröffnet, wenn man durch das Hauptportal geht, ist atemberaubend“, verspricht der Bauleiter Philippe Jost. Die Mitglieder des Chors kennen diese Ansichten längst, sie hatten einen wesentlich Anteil daran. Sie sind Bildhauer und Restauratoren, Steinmetze oder Schreiner – und bilden gemeinsam den „Chor der Gesellen von Notre-Dame“.
Felicja Lamprecht ist Hobby-Sängerin, Künstlerin und Restaurateurin, spezialisiert auf Wandmalereien. Kurz nach dem Brandunglück wurde sie mit ins Restaurationsteam geholt. Die 38-Jährige war schon an vielen Baustellen von Pariser Monumenten beteiligt, seit sie nach dem Studium in ihrem Heimatland Polen nach Frankreich zog. „Weil es schnell gehen musste, wurden besonders viele Arbeitskräfte auf einmal gebraucht.“
Gemeinsam mit ihren Kolleginnen kümmerte sie sich um die Restaurierung der Gemäuer und Wandgemälde von zwölf Seitenkapellen im Chorbereich. Einen Satz lässt die junge Frau im Gespräch immer wieder fallen: „So etwas passiert eigentlich nicht in einem Leben!“ Er spiegelt das immerwährende Staunen, die Verblüffung, ja Verzauberung wieder, an einer Ausnahme-Baustelle wie jener der Kathedrale Notre-Dame mitarbeiten zu dürfen.
Nach nur gut fünf Jahren erstrahlt die Kathedrale in neuem Glanz, auch wenn die Arbeiten an der äußeren Fassade noch lange andauern werden. Die Arbeiten mussten mehrmals unterbrochen werden, zunächst aufgrund des hohen Blei-Aufkommens im Gebäude, dann durch die Corona-Pandemie.
Der Chor entstand beim Mittagessen
„Beim Betreten und Verlassen mussten wir uns komplett wie die Astronauten verkleiden mit einer Schutz-Kombination, Gesichtsmaske und manchmal Zusatz-Beatmung, vorher und nachher duschen“, erzählt Lamprecht. Das Prozedere war auch nötig, wenn alle gemeinsam zum Mittagessen gingen. Hier wurden viele Bande geknüpft und so formierte sich dann auch der Chor.
Er passe „zum mittelalterlichen Geist von Notre-Dame“, so Bildhauer Philippe Giraud, der einen Teil der Pflanzenmotive im Südlichen Querschiff bearbeitet hat. „In der Zeit ihrer Entstehung sangen die Arbeiter auf den Baustellen, es gab Prozessionen und Messen.“ Mit einem Zimmermann verabredete er sich manchmal, um morgens in einer der Kapellen zu singen – „ein unheimliches Privileg“.

Der 57-Jährige empfand die Arbeit nicht nur als herausragend, da Notre-Dame „die Königin der Kathedralen“ sei, schon durch ihren einzigartigen Platz auf einer der Seine-Inseln, so Giraud. „Wichtig war auch die Solidarität der Beteiligten untereinander.“ Schönster Ausdruck dieses Gemeinschaftsgeists sei der „Chor der Gesellen von Notre-Dame“.