Auf den ersten Blick führt Daniel Fauser ein normales Leben. 23 Jahre, Architektur-Student in Konstanz, der in diesen Tagen über seiner Prüfungsarbeit brütet. Er liest leidenschaftlich gerne Manga-Comics, deren Figuren er wie eine Tapete an die Wand seines WG-Zimmers gemalt hat.
Doch wenn er alle paar Wochen am Wochenende zu seinen Eltern auf die andere Seite des Bodensees fährt, trifft er nicht nur seinen zwei Jahre älteren Bruder, sondern meist auch seine Schwester. Sie ist mit 28 Jahren die älteste der drei Geschwister – und Autistin. Die neurologische Entwicklungsstörung ist angeboren und zeigt sich besonders im sozialen Umgang mit anderen Menschen.
Seine Schwester hat indirekt auch damit zu tun, dass er sich ehrenamtlich für junge Menschen engagiert, die in einer besonderen Familiensituation leben.
Wenn Kinder Schattenkinder sind
Mehr als zwei Millionen Kinder in Deutschland wachsen mit einem behinderten oder schwer erkrankten Geschwister auf. Diese Kinder werden auch Schattenkinder genannt, denn die kranke Schwester oder der Bruder brauchen viel Aufmerksamkeit der Eltern. Besonders einschneidend ist es, wenn das erkrankte Geschwister oder ein Elternteil stirbt.
Er habe sich nicht zurückgesetzt gefühlt, sagt Daniel Fauser heute. „Ich war auch noch klein, als meine Schwester dann unter der Woche nicht mehr bei uns war.“ Das Leben mit ihr ist von Anfang an anders. Es bringt seine Schwester völlig aus der Fassung, wenn etwas nicht genau abläuft wie geplant.
Der Umgang mit anderen Kindern ist schwierig. Immer wieder muss Anita Fauser in der Schule erklären, warum ihre Tochter so anders reagiert.
So schwer es ihr fiel, so froh war sie auch, als sich die Möglichkeit ergab, ihre Tochter ab der 7. Klasse unter der Woche in einem Internat bei Ravensburg unterzubringen, das spezialisiert ist auf Kinder mit Einschränkungen.
Ihre Tochter fühlte sich dort wohl, und Anita Fausers Angst, dass ihre Jungen zu kurz kommen könnten, besserte sich. „Meine Jungs haben in der Pubertät keinerlei Probleme gemacht“, erinnert sich die heute 57-Jährige. „Vielleicht haben sie auch gespürt, dass das nicht auch noch geht.“ Das Verhalten ihrer Tochter kostet sie und ihren Mann bis heute viel Kraft.

Als Daniel Fauser sieben Jahre alt war, erfuhren seine Eltern von der „Geschwisterzeit“ der Stiftung Liebenau. Mitarbeiter des im Bodenseekreis ansässigen Sozialunternehmens organisierten damals mehrmals im Jahr teils mehrtägige Aktionen, an denen er und sein Bruder teilnehmen konnten. Die anderen Kinder, die sie dort kennenlernten, kamen aus ähnlichen Familien: Alle hatten zu Hause behinderte Geschwister.
Seit vier Jahren leitet Daniel Fauser selbst solche Freizeiten. Amalie – der ambulante Kinder- und Jugendhospizdienst der Stiftung Liebenau und des Malteser Hilfsdiensts koordiniert die Arbeit der jungen Leute und war ab 2018 am Pilotprojekt des Bundesfamilienministeriums beteiligt, das mehr jüngere Ehrenamtliche für die Sterbe- und Trauerbegleitung gewinnen wollte.
Corona erschwerte das Projekt, doch inzwischen steht die Arbeit mit den jungen Ehrenamtlichen auf festen Füßen.
Wenn der 23-Jährige heute an seine eigene Zeit in der Freizeit zurückdenkt, gerät er ins Schwärmen. Wochenenden auf einer Hütte, Wandern, am Bach und auf der Wiese spielen, Wikingerschach und Schuhgolf, bei dem die eigenen Schuhe als Golfball dienten, gemeinsames Kochen.

Immer wieder ließ Jörn, einer der damaligen Leiter, sich lustige Sachen einfallen. „Er hat sein Müsli morgens plötzlich mit einem großen Holzlöffel gegessen“, erinnert sich Daniel Fauser. „Da wollten wir natürlich alle wissen, woher er den hat.“ An diesem Tag haben alle Kinder mit Begeisterung ihren eigenen Löffel geschnitzt. „Die Geschwisterzeit“, sagt er, „hat so viel Spaß gemacht, und ich habe so viel Schönes mit den anderen und den beiden Leitern Jörn und Sybille erlebt.“
Acht junge Ehrenamtliche sind dabei
Heute, viele Jahre später, betreut er mit einem Team aus acht jungen Ehrenamtlichen zwischen 18 und 30 Jahren die Gruppe für junge Leute ab 13 Jahren, in deren Familie ein naher Angehöriger mit lebensverkürzender oder lebensbedrohlicher Krankheit lebt, oder die um einen nahen Angehörigen trauern. „Wir sind auch offen für Jugendliche, die selbst erkrankt sind“, sagt Heike Lander, Amalie-Koordinatorin im Bodenseekreis.
Viele der jungen Ehrenamtlichen wohnen wegen ihres Studiums oder ihrer Ausbildung woanders. Doch für die acht Aktionen jedes Jahr und die Planung dazu nehmen sie sich Zeit und kommen in ihre alte Heimat an den Bodensee. Dabei sind auch ehrenamtliche Kinderhospiz-Paten, die eine 100-stündige Ausbildung gemacht haben und diese besonderen Familien auch im Alltag begleiten.
„Wir wissen, wen die Kinder verloren haben, aber nichts Näheres über die Umstände, wie es passiert ist“, sagt Daniel Fauser. Wenn neue Kinder dabei sind, stellt er sich kurz vor und erzählt, dass er eine behinderte Schwester hat. Er liebt seine Schwester und freut sich, wenn er sie trifft oder sie ihn in Konstanz besucht.
Es stört ihn nicht, wenn sie die Fassung verliert
So bringt es ihn auch nicht aus der Ruhe, wenn sie in der Öffentlichkeit mal die Fassung verliert. Er hat das Gefühl, dass das Verständnis bei geistigen Einschränkungen nicht so groß ist wie bei körperlichen Behinderungen. „Wenn sie die gesellschaftliche Ordnung stören, werden Behinderte eher nicht toleriert, da wird hinter ihrem Rücken getuschelt.“
Nach der Vorstellungsrunde geht‘s los. Die Kinder sollen Spaß haben, im besten Fall neue Freunde und Ablenkung finden von einem Alltag, in dem sie oft schon früh Verantwortung übernehmen. Immer wieder erlebt es der 23-Jährige, wie die Kinder sich untereinander das Erlebte anvertrauen. „In der Gruppe“, erzählt er, „sind zwei Mädchen, die hier beste Freundinnen geworden sind.“
Der Renner ist jedes Jahr das Wochenende im Europapark. Aber auch die Wanderung mit Alpakas und einer Alpaka-Therapeutin kam gut an. Dieses Jahr ist ein Improvisationstheater-Workshop geplant. „Wir wollen alle Sinne bei den Jugendlichen ansprechen“, sagt Heike Lander.
Beim Floßbau gilt es, ohne Anleitung und im Team ein Wassergefährt zu konstruieren. Kintsugi, die japanische Kunst, bei der zerbrochene Keramik mit Goldkitt repariert wird, ist zum ersten Mal im Angebot. „Das Wesentliche ist dieses Zusammenkommen, sich Kennenlernen können“, sagt Heike Lander, „und das Gefühl zu haben, dass mich die anderen verstehen, ohne dass ich groß etwas dazu sagen muss.“
Workshop für Interessierte
Die Koordinatorin für den Bodenseekreis ist begeistert vom Engagement der jungen Menschen. Immerhin gaben 2020 fast drei Viertel der 16- bis 30-Jährigen in einer repräsentativen YouGov-Umfrage an, nicht zu wissen, was Hospizarbeit ist. Gleichzeitig sagten sie in der Befragung, dass ihnen eine gute Vorbereitung und Informationen darüber, was sie in dem Ehrenamt genau machen, erleichtern, sich zu engagieren. Deshalb planen Heike Lander und ihre Kolleginnen im Februar einen Workshop, zu dem sich neue Interessierte melden können.
Und Daniel Fauser? Was ist sein Ziel in der Arbeit mit den Jugendlichen? „Wenn ich so wie Jörn und Sybille für jemand anderes sein könnte, wie die beiden damals für mich“, sagt er, „dann wäre das schon cool“,
Der Workshop für 18- bis 30-Jährige findet am 21. und 22. Februar statt. Nähere Infos: http://heike.lander@stiftung-liebenau.de