Sehr geehrter Herr Lindemann,

Sie besingen sadistische Praktiken, Vergewaltigungsfantasien, Drogenkonsum, kurz: Sie sind ein Kind des Rock‘n‘Roll. Entgegen manch verbreiteter Vorstellung hat dessen Streben ja nie dem Sadismus gegolten, der Vergewaltigung oder Völlerei. Sondern der Wahrheit.

Gegen die Heuchelei eines nur scheinbar tugendhaften Bürgertums ging es, als die Rolling Stones „Sympathy for the Devil“ bekundeten oder AC/DC den „Highway to Hell“ nahmen. Gegen ein Bürgertum, das vor lauter selbstgefälliger Entrüstung gar nicht erkannte, dass der Teufel nur eine fiktive Rolle war und seine Feier in Wahrheit die Kritik am allzu schönen Schein der vermeintlich besonders Anständigen. Der Rock‘n‘Roll war das dringend benötigte Therapieprogramm für eine dogmatisch erstarrte Gesellschaft.

Doch die Wahrheit von gestern ist bisweilen der Irrtum von heute. Und Irrtümer hat es im Rock‘n‘Roll viele gegeben. Einer davon bestand in der Annahme, freie Sexualität sei Lebensziel der als Vorbilder geltenden schwarzen Bluesmusiker gewesen. Es hat noch nie gestimmt.

Die so viel besungene Abgebrühtheit in Sachen Frauen und Liebe war in Wahrheit dem harten Leben als fahrender Musiker geschuldet gewesen: Weil sich der Traum eines privaten Glücks mit Frau, Haus und Kindern für einen Nachkommen der Sklaven auf den Straßen Nordamerikas ohnehin nicht erfüllen ließ, flüchtete man sich in Sarkasmus.

Früher Ausdruck der Freiheit, heute Fall für den Staatsanwalt

Wie viele Frauen für dieses Missverständnis bitter büßen mussten, lässt sich nur erahnen. Die Erzählungen von Orgien hinter den Kulissen sprechen Bände: So manches, was in den 60er- und 70er-Jahren als Ausdruck von Freiheit galt, wäre heute ein Fall für den Staatsanwalt. Und dass manche Frauen diese Geschichten zu Markte trugen, weil sie als Groupie ein bisschen Abglanz vom Ruhm der Stars zu erhaschen hofften, macht die Sache nicht besser. Die Spielregeln des Rock‘n‘Roll haben nämlich allein Männer geschrieben.

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Herr Lindemann, die nun bekannt gewordenen Schilderungen von Frauen, die sich in der ihnen dabei zugedachten Rolle offenbar nicht wohl fühlen, sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Dabei ist schon allein die mutmaßliche Existenz einer sogenannten „Row Zero“ für bevorzugt junge weibliche Fans ein Anachronismus. Und zwar auch dann, wenn daran juristisch – wovon ich selbstverständlich ausgehe – nichts zu beanstanden ist.

Eines ist damals wie heute unverändert: Mit Veränderungen tut sich gerade die ältere Generation schwer. Ich könnte mir deshalb vorstellen, dass Sie und mancher andere vielleicht eine Rockkultur so ganz ohne Sexorgien langweilig, piefig, irgendwie nicht echt findet. Mir persönlich gefällt auch nicht alles, was eine jüngere Generation zurzeit so an neuen Forderungen formuliert. Aber manches davon gefällt mir außerordentlich gut.