Die Reaktion offenbart einen Kern des Problems. Angesprochen auf Berichte von „Süddeutscher Zeitung“ und NDR, wonach mehrere Frauen ihrem Frontmann Till Lindemann Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe vorwerfen, teilt die deutsche Band Rammstein mit: „Uns sind keine behördlichen Ermittlungen dazu bekannt.“ Darüber hinaus verweist man auf das Recht „nicht vorverurteilt zu werden“. Den Sachverhalt selbst bestreitet man.
In der Tat gibt die Geschwindigkeit und Vehemenz, in der sich weite Teile der Öffentlichkeit ein Urteil über vermeintliche Straftaten erlauben, einmal mehr zu denken. So verstörend die Berichte vom angeblich systematischen Anwerben junger Frauen für Aftershow-Partys auch sind: Was hinter den Kulissen tatsächlich abgelaufen ist, ob das, was abgelaufen ist, einen Straftatsbestand erfüllt – das alles können nur Gerichte klären. Und solange juristisch nicht das Gegenteil festgestellt wird, ist der Frontmann des erfolgreichsten deutschen Rockexports unschuldig. Ganz gleich, wie gut sich die Vorwürfe auch in seine grimmig-böse Selbstinszenierung einfügen mögen.
Die Empörungslust gibt umso mehr zu denken, als sie diametral zur bisherigen Rammstein-Rezeption steht. Vor allem die Hochkultur nämlich gefiel sich über Jahrzehnte hinweg in der Verklärung einer Band, die das Spiel mit dem Feuer früh zum lukrativen Selbstzweck erkoren hat. Je näher dran am Verbotenen, desto eifriger bemühten sich Feuilletonisten, das Offenkundige als raffinierte Ironie für Eingeweihte zu interpretieren. Die brachialen Texte? Ausdruck einer verletzten Seele! Die obszönen Gesten? Wohlkalkulierte Provokation! Die faschistoide Bühnenästhetik? In Wahrheit eine Sabotage des Faschismus!
Von Wagner bis Zizek
Die Riege der Rammstein-Versteher im Elfenbeinturm des europäischen Geisteslebens reichte von der Opernregisseurin Katharina Wagner bis zum Philosophen Slavoj Zizek. Und es entbehrt nicht einer Ironie, dass ausgerechnet die Süddeutsche Zeitung – jenes Blatt, das vor zehn Jahren noch eine mehrseitige, sogar preisgekrönte Jubelhymne auf Rammstein publiziert hatte – jetzt mit seinen Recherchen einen neuen Stein in die MeToo-Debatte wirft. Im damals so hochgelobten Text durfte die Tourmanagerin noch naiv vom „absolut besonderen“ Charakter der Bandmitglieder schwärmen. „Nur das hier: Die halten einer Frau die Tür auf. Alles klar?“

„Eine Faust in meinem Bauch / Komm her, du willst es doch auch“, „Sex, komm mit mir / Besser widerlich, als wieder nicht“, „Ich tu dir weh / Tut mir nicht leid / Das tut dir gut / Hört wie es schreit“: Nein, es braucht keine eidesstattlich versicherten Erfahrungsberichte, um blindes Fangehabe im Fall Rammstein für unangebracht zu halten. Es genügt ganz einfach ein Blick auf ihr Werk, auf Texte, Töne, Inszenierungen. Damit soll ganz ausdrücklich nicht einer pauschalen Verurteilung desselben das Wort geredet werden. Sehr wohl aber einem kritischen Blick.
Im Jahr 2020 veröffentlichte der Verlag Kiepenheuer & Witsch einen Lyrikband, in dem sich auch ein Gedicht aus der Feder Till Lindemanns fand. Der Text offenbarte eine Vergewaltigungsfantasie, die jeden empfindsamen Leser erschüttern musste. Man dürfe das „lyrische Ich“ mit dem Verfasser Lindemann nicht verwechseln, verteidigte sich damals der Verlag gegen Kritiker – durchaus zu Recht: Literatur ist dazu da, Leser zu erschüttern, Goethe ist nicht Mephisto, Shakespeare nicht Macbeth.
Nun jedoch beendet der Verlag die Zusammenarbeit mit Till Lindemann. Man will nämlich im Zuge der neuen Vorwürfe von einem Porno-Video Kenntnis erlangt haben, das allerdings bereits seit drei Jahren im Netz kursiert. Wie erklärt sich eine angeblich so überraschende Entdeckung nach so langer Zeit?
Mehr als nur ein Puppenspiel
Rammstein will seit jeher grenzwertig sein. Der von ihren intellektuellen Schutzpatronen so gerne erhobene Einwand, wer ihre Texte wörtlich nimmt, sei ihnen schon auf den Leim gegangen, zielt deshalb ins Leere. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: In die Falle tappt, wer solche Verse aus blindem Vertrauen in die Redlichkeit ihres Autors als bloßes Puppenspiel verharmlost.
Das Problem an dieser Art Kunst ist nämlich nicht allein ein verstörender Text, eine obszöne Geste oder eine faschistoide Ästhetik. Es zeigt sich vielmehr bei einem Konzertbesuch, wenn sich all das auf beklemmend konsequente Weise zu einem Gesamtbild verdichtet. Und wenn das Bemühen, dieses Gesamtbild irgendwie ironisch zu deuten, dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern gleichkommt. Alles sieht nach einer großen Feier der Menschenverachtung und Gewaltverherrlichung aus. Weil aber ein paar besonders Kluge versichern: „Nein, nein, das ist alles ganz anders gemeint, ungemein subtil und du glaubst gar nicht wie literarisch versiert!“, mag niemand widersprechen.