Wer wunschlos glücklich ist, so ganz und gar ohne jede verbleibende Sehnsucht nach mehr: Der müsste doch in Frieden sterben können. Aber wie erreicht man das? Selbst Goethes Faust will es ja nicht gelingen, und das trotz tätiger Hilfe von ganz unten. Nur „im Vorgefühl“ von diesem Glück kann er den „höchsten Augenblick“ genießen.
Vielleicht verschafft uns ja die Künstliche Intelligenz (KI) bald Abhilfe. Einen Vorgeschmack darauf liefert uns der Schriftsteller Thomas Melle. In seinem neuen Roman „Haus zur Sonne“ erhalten Lebensmüde ein verlockendes Angebot. Für einige Wochen werden alle nur erdenklichen Träume wahr. Oder vielmehr: Diese Träume sind so realistisch, dass sie sich von der Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden lassen. Was auch immer der Klient noch einmal erleben will, eine ausgeklügelte Technik pflanzt es ihm direkt ins Hirn.
Autor leidet an bipolarer Störung
Ein solches Szenario hat bei diesem Autor einen ganz speziellen Hintergrund. Melle leidet an einer bipolaren Störung, auf manische Phasen folgen stets Depressionen, oft zusätzlich begleitet von Wahnvorstellungen. Es handele sich, so sagte er einmal, um jene Erkrankungsform, „bei der man sprichwörtlich verrückt ist, sich selbst und sein Leben ruiniert.“ Mindestens zweimal soll er versucht haben, sich umzubringen.
Nach Wunscherfüllung ins Jenseits
Mit „Haus zur Sonne“ entwirft er nun ein bizarres Ausstiegsprojekt auf staatliche Kosten. Denn zum Kleingedruckten im Aufnahmevertrag gehört eine wahrhaft faustische Klausel: Ist der Kunde bei seinem letzten Wunsch angelangt, geht es zuverlässig ins Jenseits. Wer es sich in der Zwischenzeit noch mal anders überlegt und doch wieder Freude am Leben verspürt, hat Pech gehabt. Was also braucht dieser Mann, um in seinen letzten Wochen mit sich ins Reine zu kommen? Einen lang ersehnten Helikopterflug? Wandern in der Wüste Gobi? Auf einen Champagnerabend mit Hollywoodstars?
Letzter Wunsch: Nähe
Nein, nein, wehrt der Ich-Erzähler dankend ab. Und bringt dann zögernd hervor: Liebe vielleicht. Freiheit. Glück! Das seien ja große Begriffe, findet seine Betreuerin und mahnt: „Etwas konkreter muss es schon sein.“ Also gut. Nähe! Einem anderen Menschen nahe zu sein, das sei doch unzweifelhaft eine schöne Sache. Bald geht es in ein unauffälliges Zimmer und auf eine klinische Liege, er weiß gar nicht, wie ihm geschieht: Da steht er auch schon auf dem Tennisplatz. Das Match ist offenbar gerade beendet, sein Freund Georg steht am Netz und erwartet den Handschlag. Doch sie fallen sich gleich in die Arme, halten sich innig und fest. „Nähe ohne Funktion, ohne Hintergedanken, ohne Lust und ohne Zwang.“ Ja, vielleicht muss man tatsächlich erst ins Haus der Sonne kommen, um so etwas erleben zu dürfen.
Nicht alle sind hier so genügsam. Beim Entspannen am Pool lernt er andere Gäste kennen: Leute, die blutige Mordszenarien bestellen. Er selbst probiert eine Sexorgie aus mit schier endloser Lust. Aber am Ende landet er stets bei den gewichtigeren Bedürfnissen: Begangene Fehler berichtigen. Eine zweite Chance erhalten. Doch noch mal die Karriere als Popstar starten, heiraten, eine Familie gründen. Man denkt bei der Lektüre an Max Frischs Theaterstück „Biografie: Ein Spiel“. Und wie in diesem, so funktioniert auch hier die Korrektur allenfalls in Ansätzen.
Das Dilemma des Menschen
Ergiebiger als die Simulationen selbst sind denn auch die in diesem Buch zum Ausdruck kommenden Gedanken über den Tod und unser oft ambivalentes Verhältnis zu diesem. „Ich wollte nicht leben, aber wollte auch nicht nicht leben“, heißt es da. „Ich wollte weder leben noch sterben, oder eben beides. Aber es gab nichts dazwischen, kein Sowohl-als-auch.“ Vielleicht liegt genau darin das Dilemma der menschlichen Existenz, im Neid auf die unbelebten Dinge, die existieren, ohne sich darüber den Kopf zerbrechen zu müssen: „Das Menschsein überlisten, zum Ding werden, das keinen Schmerz kennt und, von Anfang an tot, sich einfach von hier nach da bewegen lässt.“
Vollkommenes Glück gibt es nicht
Kein Wunder, dass der Todeskandidat aus freien Stücken im Haus zur Sonne plötzlich doch das Leben zu schätzen lernt. Als das Ende unausweichlich scheint, findet er zu sich, vielleicht erstmals überhaupt in seinem Leben. Wird ihm die Flucht gelingen? Der Lauf „ins Offene“, wie er es in Anlehnung an Hölderlin nennt?
Fest steht: Geht es um Leben und Tod, kann es ein Sowohl-als-auch nicht geben. Und ein vollkommenes Glück, so ganz ohne jeden offenen Wunsch schon gar nicht. Auch die klügste KI wird uns zu diesem Problem keine Lösung bieten.
Thomas Melle: „Haus zur Sonne“, Roman; Kiepenheuer & Witsch 2025; 320 Seiten; 24 Euro