Keiner kann es besser als Loriot. Wenn in „Weihnachten bei Hoppenstedts“ Vati seufzend eine neue Krawatte nach der anderen auspackt, Klein-Dicki gegen den Fernseher tritt und Opa Hoppenstedt die Familie mit seinen Märschen foltert, wissen wir es genau: „Die Hölle, das sind die anderen.“ So hat es der eher menschenfeindliche französische Philosoph Jean-Paul Sartre mal formuliert.
Die meisten Menschen mögen ihre Verwandten. Eigentlich. Doch gleichzeitig treiben sie viele zum Wahnsinn, nerven mit ihren Angewohnheiten, sind spießig, borniert oder egoistisch. Familien sind eines der beliebtesten Sujets in der Literatur – von Thomas Manns „Buddenbrooks“ über Isabel Allendes „Geisterhaus“ bis zu „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez.

Da treffen Charaktere aufeinander, die man eigentlich nie kennenlernen wollte. Gut, nicht jeder hat eine Familie Mann‘schen Ausmaßes zuhause. Aber mit dieser buckligen Verwandtschaft Weihnachten feiern? Das war für viele bisher etwa so attraktiv wie Halsschmerzen.
Corona stellt alles auf den Kopf
Plötzlich, mit Corona, ist alles anders. Da stellen Menschen, die ihre Verwandtschaft bislang am liebsten aus der Entfernung genossen haben, mit Verblüffung fest, wie sehr sie an Mutter, Vater, den Großeltern oder dem etwas schnapsfreudigen Onkel Karl hängen. Plötzlich ruft man alle paar Tage an, macht sich Gedanken, wie man das Fest für alle möglichst sicher gestalten kann, schickt Päckchen, schreibt Briefe.
Was ist da los? Was ist da geschehen in den Herzen des 21. Jahrhunderts? Wolfgang Krüger ist Psychotherapeut in Berlin. Ihn überrascht der aktuelle Befund nicht: „In Krisenzeiten entwickeln Menschen eine Art Wagenburg-Mentalität“, sagt er. Dann brauche man Verlässlichkeit, und dann steige die Bedeutung der Familie.
„Die Welt hat sich verkleinert und fokussiert auf diese Kernfamilie“, und zwar unabhängig davon, wie gut man sich sonst verstehe. Das bedeute nicht, dass es keine Probleme gebe: „Etwa wenn jemand eine kleine Wohnung hat und die Kinder im Homeoffice betreuen muss.“
Auch das Gefühl für die Herkunftsfamilie habe sich geändert, für die eigenen Eltern und die Großeltern, um die sich viele Sorgen machten. In den Hintergrund getreten seien dagegen die Alltagsfreundschaften, mit denen man Sport mache und im Chor singe, „weil ich diese Leute gar nicht mehr sehen kann“.
An Weihnachten fliegen die Fetzen? Alles ganz normal
Familie ist freilich eine hochambivalente Angelegenheit. Das wissen die Romanciers und das weiß auch der Experte: Einerseits sei sie der „Ort der Geburt, in der wir als Kinder und Jugendliche die meiste Zeit im Leben verbracht haben und mit innigen Erlebnissen, hoffentlich mit Urvertrauen, groß geworden sind.“ Sie sei aber auch ein Ort, von dem man sich ablösen müsse, „wo wir in der Pubertät und später häufig größere Konflikte haben, weil wir unseren eigenen Weg finden müssen, auch mit Geschwistern oder wenn es später um die Erbschaften geht.“ Bis dahin also alles ganz normal.
Krüger berichtet, dass in vielen Familien an Weihnachten die Fetzen fliegen, weil erwachsene Söhne und Töchter oft schnell in die Kinderrolle zurückfallen: „Meinen Patienten rate ich immer, geht mindestens einmal oder zweimal am Tag für längere Zeit spazieren. Entfernt euch aus der Situation, damit ihr mehr bei Euch bleibt und die Kontrolle besser behalten könnt.“
In den vergangenen 20 Jahren hätten die Herkunftsfamilie und die eigene Familie an Bedeutung verloren, dafür sei der Wert von Freundschaften gestiegen. „Freundschaften sind deswegen so glücksbringend, weil ich mehr Abstand habe. Familie ist der Ort, in dem diese Gefühle sehr verbacken sind, wo Vorwürfe und Erwartungen dahinterstecken“, weiß Krüger.
Folgt jetzt also die Rolle rückwärts, der Rücksturz in die traditionelle Papa-Mama-Kind-Familie, bei dem auf moderne Patchwork- und Regenbogenfamilien, bei denen etwa beide Elternteile männlich oder weiblich sind, keine Rücksicht genommen wird? Das kann‘s ja auch nicht sein – und da steht die bundesdeutsche Gesellschaft nicht mehr.
Krüger und seine Frau fanden für sich in Berlin eine moderne, zukunftsgewandte Lösung: „Als unsere Kinder zehn Jahre alt waren, haben meine Frau und ich sie gefragt: Wie wollt ihr Weihnachten feiern? Und sie haben gesagt: Nicht mehr so wie bisher. Dann haben wir das Fest verändert. Wir haben Freunde aus aller Welt eingeladen, waren mal 16 Leute, und es war saugemütlich – weil wir die traditionelle Familie mit ihrer Enge und den vielen Erwartungen und Kränkungen geöffnet haben.“
Ein Fest der Gespräche
Dieses Jahr wird bei Krügers geskypt, also übers Internet mit Bild telefoniert, in drei wechselnden großen Besetzungen, mit einer aufregenden Idee: „Wir planen nun ein Fest der Sprache, der Wörter. Wir wollen Gespräche führen: Was sind für den Einzelnen wichtige Lebensziele? Was wollte ich mit 15 erreichen? Und: Was macht für jeden Glück aus? Wie können wir uns gegenseitig unterstützen, sodass jeder glücklicher wird? Das sind alles schwerwiegende Themen, die wir im Internet erörtern wollen. Ich bin gespannt, wie weit das gelingt.“

Das von vielen so gescholtene Internet habe in der Corona-Pandemie gezeigt, welchen großen Nutzen es haben könne: „Angesichts dieser Krise ist es ein Segen“, findet Krüger. „Meine Großmutter lebte nach dem Krieg in einer Laube ohne Strom, ohne Wasser, ohne Telefon. Wir können uns heute im Grunde zum anderen hinbeamen, wir können ihn sehen. Das ist irrsinnig. Ohne Internet wäre diese Corona-Krise nicht so gut zu bewältigen.“
Was wird von Corona bleiben? Krüger möchte derzeit nicht wetten, dass der Großteil der Menschen etwas aus der Krise lernt. „Das setzt voraus, dass ich kreativ handle, dass ich die Krise annehme und zu einer Verlangsamung des Lebens bereit bin, dass ich Konsum neu bewerte. Leben ist vor allem Begegnung. Wenn ich das nicht tue, nur warte, bis alles vorbei ist – und das ist bei vielen, die ich kenne, der Fall – dann lernen ich nichts dazu und dann wird uns das auch nicht verändern.“
Das Glücksniveau bleibt fast konstant
Wirft man dagegen einen Blick in den Freiburger „Glücksatlas 2020“, könnte man optimistisch werden. Sozialforscher fragen darin jedes Jahr die Bundesbürger, wie glücklich sie sind. Man hätte erwarten können, dass die Pandemie dem Glück der Menschen einen kräftigen Dämpfer verpasst. Das ist aber nicht geschehen. Nicht mal um einen halben Punkt sank das Glücksniveau der Deutschen im aktuellen Jahr – von 7,14 im Vorjahr auf 6,74 Punkte (auf einer Skala von eins bis zehn).
83 Prozent der Befragten erklärten, sie hätten entdeckt oder wiederentdeckt, wie wichtig Freunde und Familie seien. 70 Prozent glauben auch, dass die Krise Treiber für ein nachhaltigeres Wirtschaftswachstum sein werde. Und: Sie erwarten, im neuen Jahr wieder glücklicher zu werden. Dass die Menschen trotz allem so optimistisch geblieben sind, dazu haben die Familien in diesem Jahr wesentlich beigetragen. Ob sie nun Hoppenstedt oder ganz anders heißen.
Buchtipp: Wolfgang Krüger, Humor für Anfänger und Fortgeschrittene, bod-Verlag, 14,90 Euro.