Herr Krüger, was ist das eigentlich: Familie? Mir scheint: eine hochgradig ambivalente Angelegenheit...
Familie ist vor allem in Krisenzeiten der wichtigste Ort unseres Lebens. Sie ist der Ort der Geburt, in der wir als Kinder und Jugendliche die meiste Zeit im Leben verbracht haben und mit innigen Erlebnissen, hoffentlich mit Urvertrauen, groß geworden sind. Sie ist ein Ort, wo wir geprägt wurden, wo wir Vorbilder hatten, aber auch ein Ort, wo wir uns ablösen müssen. Und wo wir in der Pubertät und später häufig größere Konflikte haben, weil wir unseren eigenen Weg finden müssen, auch mit Geschwistern oder wenn es später um die Erbschaften geht.
Deshalb ist sie auch so schwierig. In den letzten 20 Jahren gab es die klare Tendenz, dass die Herkunftsfamilie und die eigene Familie an Bedeutung verlieren. Immer stärker gab es den Wunsch, selbst gewählte Beziehungen zu haben, die man selbst regulieren darf. Denn die Familie ist eine „Zwangsgemeinschaft“. Der Grundsatz war immer: Man hält zusammen, egal wie man sich versteht. Das war für Kriegszeiten enorm wichtig. Deshalb war Familie gesellschaftlich der größte Halt, den wir hatten. Aber ich kann dem anderen nicht so aus dem Weg gehen. Familienbeziehungen hat man lebenslänglich, da kann man sich nicht trennen.
Was passiert mit diesem Gefüge an Weihnachten?
Es gibt nur wenige klassische Rituale, nämlich Taufe, Hochzeit, Weihnachten und Beerdigung. Rituale sind bestimmte, feste Handlungen, die man automatisch ausführt. Wenn man das tut, ist man glücklich.
Weihnachten ist ein Fest des Glücks und des Lichts. Die Zutaten sind einfach: Essen, Geschenke, Singen, ein Baum. Es ist fast ein kindliches Fest. Nachher hat man Sodbrennen und hat zugenommen, und ein Drittel sagt nachher: ein Glück, dass es vorbei ist. Aber man freut sich trotzdem darauf. An Weihnachten verliert man schnell die Kontrolle. Viele meiner Patienten haben ein mulmiges Gefühl, haben Angst, dass sie wieder in die Kinderrolle geraten. Man wird bedient, die Eltern fragen: Wann werde ich Großmutter? Und dann fühlen sie sich bedrängt. An Weihnachten muss ich zwei Dinge hinkriegen. Nämlich einerseits wirkliche Nähe herstellen, indem ich Gespräche führe, in denen ich mich für den Anderen interessiere, aber ich brauche auch ein bisschen Abstand um zu akzeptieren, dass da jemand anders lebt, als ich das für richtig halte.
Freundschaften sind deswegen so glücksbringend, weil ich mehr Abstand habe. Familie ist der Ort, in dem diese Gefühle sehr verbacken sind, wo Vorwürfe und Erwartungen dahinterstecken. Meine Patienten rate ich immer, geht mindestens einmal oder zweimal am Tag für längere Zeit spazieren. Entfernt euch aus der Situation, damit ihr mehr bei euch bleibt und die Kontrolle besser behalten könnt.
Weihnachten mit der Familie zu feiern, das war ja bislang so attraktiv wie Halsschmerzen. Hat Corona das Verhältnis der Menschen zu ihrer Familie verändert? Ist einem bewusst geworden, wie wichtig sie einem ist?
Ja. Wir müssen unterscheiden zwischen der eigenen Familie und der Herkunftsfamilie. Die eigene Familie ist extrem wichtiger geworden. Die Welt hat sich verkleinert und fokussiert auf diese Kernfamilie, mit allen Problemen, die dranhängen, etwa wenn jemand eine kleine Wohnung hat und die Kinder im Homeoffice betreuen muss.
Aber es hat sich auch das Gefühl für die Herkunftsfamilie geändert, für die eigenen Eltern und die Großeltern. Unsere Alltagsfreundschaften, mit denen ich Sport mache und im Chor singe, sind in den Hintergrund getreten, weil ich diese Leute gar nicht mehr sehen kann. Das Gefühl, dass die Familie einem Halt bietet, ist sehr angestiegen. Das ist immer so in Krisenzeiten, da entwickeln Menschen so eine Art Wagenburg-Mentalität. In solchen Zeiten brauchen wir Verlässlichkeit, deshalb steigt diese Bedeutung. Die Herzensfreundschaften haben sich dagegen verbessert.
In der Studentenbewegung hat man sich von der traditionellen Familie abgekehrt. Ich finde, dass wir Familie weiter entwickeln müssen. Als unsere Kinder zehn Jahre alt waren, haben meine Frau und ich sie gefragt: Wie wollt ihr Weihnachten feiern? Und sie haben gesagt: Nicht mehr so wie bisher. Dann haben wir das Fest verändert. Wir haben Freunde aus aller Welt eingeladen, waren mal 16 Leute, und es war saugemütlich – weil wir die traditionelle Familie mit ihrer Enge und den vielen Erwartungen und Kränkungen geöffnet haben.
Klingt gut, wird nur dieses Jahr schwierig...
In der Tat, dieses Mal werden wir nur skypen. In Berlin ist die Situation sehr dramatisch. Keiner kommt in unsere Wohnung, und wir gehen auch nirgends hin. Wir haben drei große Skype-Treffen mit Familie und Freunden. Das wird dieses Jahr unser Weihnachtsfest sein, und wir schicken die Geschenke rum. Alles andere wäre in Berlin nicht zu verantworten, ja gefährlich.
Weihnachten war ja immer auch ein Fest des Essens. Wir planen nun ein Fest der Sprache, der Wörter. Wir wollen Gespräche führen: Was sind für den Einzelnen wichtige Lebensziele? Was wollte ich mit 15 erreichen? Und: Was macht für jeden Glück aus? Wie können wir uns gegenseitig unterstützen, sodass jeder glücklicher wird? Das sind alles schwerwiegende Themen, die wir im Internet erörtern wollen. Ich bin gespannt, wie weit das gelingt. In zehn Jahren werden wir uns an dieses Weihnachtsfest ganz besonders erinnern, da bin ich sicher.

Wie sehr schadet es Menschen eigentlich, dass sie sich nicht sehen können? Die alten Menschen leiden da schon sehr darunter...
Die größte Vertrautheit, die wir haben, das Ursprungsgefühl, ist der Körperkontakt. Wo man eng beisammen sitzt, wo einem der Geruch des Weihnachtsbratens in die Nase steigt, da muss man normalerweise gar nicht reden, um sich wohlzufühlen. Da geht es einem gut.
Das ist ein sehr unkompliziertes Gefühl, das fehlt dieses Mal. Die Frage ist aber doch: Wenn wir uns nicht mehr umarmen können, gibt es Worte, die unter die Haut gehen? Können wir mit Anerkennung und den richtigen Fragen den Anderen in seiner Existenz verstehen, ihn damit quasi umarmen? Sodass das Ganze mehr Tiefgang bekommt, als wenn man normal beisammensitzt?
Sodass sich die Menschen verstanden fühlen, meinen Sie?
Richtig. Ich mache alle Therapiegespräche per Skype. Wenn ich den Menschen Anerkennung gebe, geht ihnen das so unter die Haut, dass sie sich noch eine Woche damit bestätigen. Wir können eine Form von Gesprächen finden, in denen wir jemand sehr nahe kommen. Aber wir müssen dazu neue Muster finden.
Man hat ja lange Zeit über das Internet geschimpft. Angesichts dieser Krise ist es aber ein Segen! Meine Großmutter lebte nach dem Krieg in einer Laube ohne Strom, ohne Wasser, ohne Telefon. Wir können uns heute im Grunde zum anderen hinbeamen, wir können ihn sehen. Das ist irrsinnig. Ohne Internet wäre diese Corona-Krise nicht so gut zu bewältigen.
Was glauben Sie? Bleibt etwas von diesem besonderen Corona-Gefühl? Oder wird das schnell vergessen?
Nehmen wir Corona als Herausforderung und Chance, lernen dazu und schauen, dass wir etwas besser machen als früher? Dann wird es eine große Veränderung geben, einen großen Einschnitt. Das setzt aber voraus, dass ich kreativ handle, dass ich die Krise annehme und zu einer Verlangsamung des Lebens bereit bin, dass ich Konsum neu bewerte. Leben ist vor allem Begegnung.

Wenn ich das nicht tue, nur warte, bis alles vorbei ist – und das ist bei vielen, die ich kenne, der Fall – dann lernen ich nichts dazu und dann wird uns das auch nicht verändern. Wenn ich mir anschaue, wie viele Menschen in der Corona-Krise etwas gelernt haben, würde ich sagen: Es ist so 50 50. Gerade, was weitere Reisen mehrmals im Jahr betrifft, könnte es gut sein, dass das wieder kommen wird.
Ich habe mit meiner Frau vor einem Jahr besprochen: Wir haben Verantwortung für die Welt. Wir leben ruhiger, haben hier einen kleinen Garten, machen keine weiten Reisen mehr, fahren mal nach Quedlinburg, fahren mit der Bahn. Wir wollen unser Leben dieser Weltkatastrophe anpassen. Weniger konsumieren, besser leben. Bei uns gibt es auch einen Geschenke-Stopp von 30 Euro. Es wird viel zu viel konsumiert. Das Wichtigste, was man schenken kann, ist Anerkennung, Zuwendung, Rückenkrabbeln, Gutscheine.