Politische Begrifflichkeit ist seit jeher ein Tummelplatz von Manipulationen. Wie in der Werbe-Sprache operiert man gern mit schrägem Selbstlob („Gute Kita-Gesetz“) und haltlosen Verheißungen wie die legendären „blühenden Landschaften“. In Diktaturen nennt man das „Propaganda“. In freiheitlichen Systemen dagegen gelten solche Produkte des politischen Marketings als Ausdruck des demokratischen Ideen-Wettbewerbs. Manchmal sind aber auch handfeste Täuschungen dabei.

Beim Solidaritätszuschlag etwa, von Anfang an einer der größten Etikettenschwindel in der Geschichte der Bundesrepublik. Nach der Wende zum Wiederaufbau der maroden Ex-DDR erdacht, wurde er wegen einer fahrlässigen Festlegung des damaligen Kanzlers Helmut Kohl schnell wieder abgeschafft, musste aber unter der Last des Aufbaus erneut eingeführt werden. Dabei brauchte es schon weitere Begründungen wie die finanzielle Beteiligung am zweiten Golfkrieg. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Begriff Solidaritätszuschlag als Nebelkerze enttarnt. Obwohl das schon zuvor feststand: Die Ostdeutschen mussten ihn ja schließlich auch entrichten. Eine etwas merkwürdige Form von Solidarität.

Der Soli ist in Wahrheit ein Zuschlag auf die Einkommensteuer

In Wahrheit handelte es sich schlicht um einen Zuschlag auf die Einkommensteuer – eine reine Steuer also, die anders als eine Abgabe gar nicht zweckgebunden erhoben werden darf und daher in den allgemeinen Bundesetat floss. Gewiss gingen nicht geringe Teile daraus seitdem in die Einheitskosten ein, die – im Gegensatz zu den immer noch knapp zweitausend Milliarden öffentliche Schulden – bis heute niemand genau berechnen kann. Immerhin hält man den Aufbau Ost dreißig Jahre nach der Vereinigung für so weit fortgeschritten, dass der Solidarpakt als Regelwerk der Transferzahlungen ausläuft. Und siehe da: Einmal mehr bietet die wohlklingende Münze der Solidarität neue Möglichkeiten. Diesmal den Umverteilungspolitikern der SPD auf ihrem strategischen Weg nach links.

Der billige Trick der SPD

Nach den Plänen der SPD, die sich damit in der Koalition durchgesetzt hat, soll die Solidarität des gleichnamigen Zuschlags künftig nur noch denen abverlangt werden, die ohnedies etwa die Hälfte seines Gesamtaufkommens bezahlen. Wie beim nachgeschobenen Entwurf zur Vermögensteuer zielt die SPD mit Blick auf die Landtagswahlen im Osten auf „Multimillionäre“ und „Reiche“. Wie billig: Nach allen Erfahrungen trifft dies vor allem die Masse von Handwerkern, Freiberuflern und Personengesellschaften. Manch einer wird sich da noch sehr wundern, wie „reich“ er plötzlich ist.

Was der SÜDKURIER schon vor 22 Jahren ahnte

„Hieße der Solidaritätszuschlag nicht Solidaritätszuschlag, sondern etwa einfach „Sondersteuer“, gäbe es wesentlich weniger öffentliches Gezerre über die geplante Senkung. Da aber bei der Einführung mit dem Begriff der Solidarität auf eine Notopfer-Mentalität für die deutsche Einheit gezielt wurde, ist die Politik jetzt in ihrer eigenen Begrifflichkeit gefangen.“ Das stand auf Seite eins im SÜDKURIER am 30. September 1997, fast genau vor 22 Jahren. Seitdem hat sich viel verändert. Der Etikettenschwindel mit der „Solidarität“ aber lebt weiter. Nur steht diesmal „soziale Gerechtigkeit“ auf dem Etikett.

Der Autor Ernst Hebeker, 65, war lange Jahre stellvertretender Chefredakteur dieser Zeitung. Zuletzt arbeitete er als Sprecher des Deutschen Bundestags in Berlin.