Das Jahr 2018 dürfte als schwarzes Jahr in die Geschichte der katholischen Kirche eingehen. Die Studie über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Kleriker bringt erschreckende Zahlen ans Tageslicht. Obwohl diese Dokumentation nicht einmal vollständig ist, weil manches Archivstück frisiert war, bietet sie eine Bilanz des Grauens, die zeigt: Der Priester, der sich an Schützlingen vergangen hat, ist kein Einzelfall. Bei einer Quote von 4,4 Prozent muss man von strukturellem Versagen sprechen. Es geht nicht mehr um einzelne schwarze Hirten unter den Schafen, sondern um Cliquen, die voneinander wussten und sich gegenseitig aus dem Sumpf halfen.
Die 27 deutschen Bischöfe sind nicht zu beneiden. Sie äußern sich beschämt und ehrlich schockiert. Sie sind fassungslos angesichts der Altlasten, die ihnen ihre Vorgänger in den Personalabteilungen hinterließen.
Die Bischöfe sind hilflos. Sie kündigen Maßnahmen an, die schon bekannt oder bereits installiert sind. Hotlines, Fonds oder Opfer-Beauftragte sind nicht neu. Die Aufarbeitung auf der therapeutischen Ebene läuft seit 2010. Als flankierende Maßnahmen sind sie auf Vergangenes gerichtet. Und doch: Wem vor 30 Jahren als Ministrant sexuelle Gewalt angetan wurde, der wird 30 Jahre später kaum zum Kummertelefon greifen. Die altbekannten Schritte wirken deshalb wie der Versuch, mit Spatzen auf Kanonen zu schießen. Mit kleiner Maurerkelle sollen Schäden repariert werden, die an den Pfeilern dieser Kirche rütteln. Einer der Pfeiler ist die unbedingte, uneigennützige Nächstenliebe.
Mutter und Rabenmutter
Die Folgen dieser Missbrauchs-Serie prägen. Über den Skandal und das mediale Aufbrausen hinweg wird der massenhafte Sündenfall im Gedächtnis haften bleiben. Das gilt nicht nur für jene Kreise, die sich über manche Panne freuen, die der katholischen Kirche widerfährt. Auch kirchennahe Bürger oder Kirchgänger geraten ins Grübeln. Sie rätseln, wie eine christliche Institution so etwas erst dulden und dann erfolgreich vertuschen kann. Manche Familie wird sich fragen, ob sie ihr Kind als Ministrant anmeldet – oder eben nicht. Ein Urvertrauen ist zerbrochen. Mutter Kirche steht als schwarze Rabenmutter da, die ihre eigenen moralischen Standards nicht einhält.
Stark angekratzt wird das Ansehen des Bischofs. In seiner Diözese bildet er bisher den Mittelpunkt, sein Amt ist mit zahlreichen Vollmachten ausgestattet. Er schart bis heute einen eigenen kleinen Staat um sich, inklusive Kirchenrecht, Finanzbuchhaltung und Personalabteilung. Und eigenem Archiv, in dem Dokumente munter manipuliert wurden. Die Ordinariate agieren bisher selbstständig. Sie sind älter als Bundesrepublik und Bundesländer und haben eine Parallelstruktur zum Staat und dessen weltlichen Gerichten aufgebaut. Deshalb wurden die gemeldeten Fälle an Pädokriminalität nicht nach außen angezeigt. Sie sollten intern geregelt werden. Sollten! Geschehen ist fast nichts, geahndet wurde nur selten. Es geschah nach dem Prinzip „man kennt sich, man schätzt sich“. Im Übrigen galt die bewährte Tugend aller Männerbünde: das Schweigen.
Pyramide ohne Kontrolle
Die Studie stellt eindeutig fest: Es liegt an der Konstruktion, die eine Häufung von Fällen erst ermöglicht, weil sie perfekt beim Verdecken half. System bedeutet, dass es mit dem Bereitstellen von Hotlines, an deren Ende ein überforderter Praktikant sitzt, nicht getan ist. Es bedeutet, dass die kirchliche Hierarchie so gebaut ist, dass sie Missbrauch leicht macht, weil es keine neutrale Beschwerdestelle gibt. Kritiker auch aus katholischen Reihen empfehlen deshalb den Umbau der katholischen Pyramide nach dem Vorbild eines demokratischen Staatswesens: Keine Macht wird ohne Gegengewicht ausgeübt; jedes Regieren unterliegt immer der Kontrolle. Der Fall Limburg zeigte bereits die Notwendigkeit auf. Mit dem Unterschied, dass in Limburg nur die Kassen misshandelt wurden.
Ein zweiter Schritt wäre eleganter und liebevoller. Er würde die katholische Kirche enger an die Welt führen. Er könnte geräumige Pfarrhäuser mit neuem Leben füllen und die Pfarrgärten mit Kinderschaukeln. Der Schritt wird schon lange gefordert, von aufgeschlossenen Bischöfen ebenso wie von Theologen. Die Rede ist von der Freigabe des Zölibats. Die Ehelosigkeit ist eine biblische Empfehlung für alle Geistlichen, die das schaffen. Die anderen sollen getrost heiraten und werden deshalb keine schlechteren Seelsorger sein. Die vorliegende Studie legt diesen Schluss nahe: Priester wurden häufiger zu Tätern als hauptamtliche, verheiratete Diakone. Das ist nicht nur Statistik, sondern angewandte Theologie. Nun geht es um unverzagtes Handeln.