32 Jahre ist es her, dass die Menschen in diesem Land voller Freude „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sangen. Die Nation war nicht nur in der Euphorie über das vereinte Deutschland miteinander verbunden, sondern auch in der Überzeugung, dass nun endlich das zusammenwachsen würde, was zusammengehörte. Diese ikonenhafte Formulierung hatte einst Willy Brandt gewählt und in wenigen Worten die Stimmung der Zeit eingefangen.

Unverändert sieht eine deutliche Mehrheit der Deutschen die Einheit als einen Gewinn und die damit verbundenen Hoffnungen als überwiegend erfüllt an, sowohl in Ost als auch in West. So steht es in der gerade veröffentlichten Studie „Ostdeutschland. Ein neuer Blick“ des Ostbeauftragten der Regierung in Berlin.

So sah es früher an der Grenze zwischen der DDR und der der Bundesrepublik Deutschland aus, eine Nachbildung in Erfurt. Im Denken ...
So sah es früher an der Grenze zwischen der DDR und der der Bundesrepublik Deutschland aus, eine Nachbildung in Erfurt. Im Denken sollten alte Grenzen längst überwunden sein. | Bild: Martin Schutt/dpa

Das ist ein sowohl erfreuliches wie auch überraschendes Ergebnis, denn Verblendungen gegenüber Ost und Vorurteile über West werden unverändert mit viel Frohsinn gepflegt, frei nach dem Motto: Sie haben keine Ahnung und das erklären sie uns.

Die Einheit der Republik ist gelungen, bei allen Unterschieden und Dingen, die es auch nach 32 Jahren noch gibt. Was soll‘s, Unterschiede zwischen Bodensee und Nordsee gibt‘s ja auch. Heute ziehen genauso viele Menschen vom Westen in den Osten wie auch umgekehrt, die Flucht aus den neuen Ländern ist Geschichte. Die Renten haben sich weit angeglichen, die Lebensbedingungen sind überwiegend egalisiert.

Beim Lohnniveau gibt‘s Aufholbedarf, keine Frage, dafür ist die Infrastruktur im Osten besser in Schuss als im Westen, ein Besuch in den maroden Städten Nordrhein-Westfalens öffnet die Augen. Und doch sind wir nicht alle gleich.

Das Vertrauen in Politik geht zurück

Die oben genannte Studie arbeitet nämlich gleichermaßen heraus, dass die Einstellungen zwischen Ost und West gegenüber Politik und Demokratie und das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Obrigkeit erheblich voneinander abweichen. Und das ist nicht nur bedauerlich, das ist bedrohlich. Und mit Blick nach vorne und auf die harten Monate, die vor uns liegen, ein Thema für uns alle.

Im Osten wächst der Unmut über die Demokratie, wie sie bei uns funktioniert, rasant. Nur noch 39 Prozent der Menschen in den neuen Ländern sind zufrieden, vor zwei Jahren waren es noch 48 Prozent. Im Westen liegt der Grad der Zufriedenheit bei noch 59 Prozent gegenüber 65 Prozent vor zwei Jahren.

Die gestresste Gesellschaft

An was das liegt, können weder Politologen noch Soziologen in wenigen Absätzen analysieren, ganz sicher ist es aber Ausdruck einer gestressten Gesellschaft, die sich im Dauermodus von Krisen erschöpft und mitunter politisch schlecht geführt fühlt. Die Sprunghaftigkeit mancher Entscheidungsträger und die vielfach gravierenden Fehler, die qua eigener Unsicherheit gemacht worden sind, haben das Vertrauen in Politik und damit in die Demokratie schwinden lassen.

So ist nur noch jeder vierte Mensch im Osten mit der aktuellen Politik der Bundesregierung zufrieden. Und das sind keine Zahlenspielereien von Menschen in warmen Büros, sondern das ist harte Realität.

Die Zündler wachen wieder auf

Der wachsende Unmut zieht schon jetzt wieder auf die Straße. Mehr als 18.000 Menschen protestierten diesen Montag allein in Thüringen, auch in anderen neuen Ländern gab es vermehrt Aufzüge und Kundgebungen. Die sogenannten Montagsdemos sind zurück.

Aber während die Corona-Demos von einst die Gesellschaft noch polarisierten und viele Menschen um Schwurbler und Verschwörungstheoretiker einen großen Bogen machen wollten, können sich unter dem Protest gegen hohe Lebensmittel- und Energiepreise mehr Menschen versammeln.

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Dass sich in diese Protestzüge auch wieder Zündler und Demokratiefeinde mischen werden, gilt als sicher, ihre Agitationen gegen Demokratie, freie Medien und Politik werden bald zu hören sein. Und davor fürchtet sich die Politik nicht nur im Osten offen, sondern hinter vorgehaltener Hand auch längst im Westen, zum Beispiel im Stuttgarter Staatsministerium.

Der Unterschied: Konstruktive und Zerstörerische

Insofern lohnt es weniger, zum Tag der Deutschen Einheit Ost und West in den Fokus zu nehmen, als vielmehr die Unterscheidung zwischen denjenigen zu machen, die im gesellschaftlichen Stress konstruktiv bleiben wollen und denjenigen, die ausschließlich zerstörerisch wirken.

Die Lage im Land ist angesichts der multidimensionalen Krise so dramatisch, dass dem lautesten Schreihals keine Aufmerksamkeit zu schenken ist. Gefragt sind besonnene Menschen, die bereit sind, ihren Teil zu einer besseren Lage beizutragen, gefragt sind also wir alle, nicht nur die Anderen – weil Demokratie vom Mitmachen lebt. Sich nur hinzustellen und alles fürchterlich zu finden, hat noch nie geholfen. Weder im Westen noch im Osten.