Es passierte in der Nacht zum Schmotzigen Donnerstag, danach kam Corona und dann war‘s auch wieder egal – so hart muss man es sagen. Der 19. Februar 2020 ist weit davon entfernt, ein Tag zu sein, der im kollektiven Gedächtnis der Deutschen verankert ist.
Dabei zeigte sich an diesem Tag nicht nur so deutlich wie selten, was Rechtsextremismus ist: eine tödliche Ideologie, die in Hanau neun Menschen das Leben kostete. Die Morde und ihre Folgen enthüllen auch entsetzliche Wahrheiten, die wir immer wieder verdrängen.
Denn Hanau ist eben kein Einzelfall. Der Nationalsozialistische Untergrund tötete neun Migranten. Der Attentäter im Münchner Olympia-Einkaufszentrum tötete 2016 sieben Muslime, zwei Menschen aus der Gruppe der Sinti und Roma. In Halle verhinderten 2019 nur die stabilen Eingangstüren der Synagoge einen Massenmord.
Deutschland kann migrantisches und ausländisches Leben nicht ausreichend schützen. Und Deutschland muss sich die Frage gefallen lassen, ob es das überhaupt will oder ob struktureller Rechtsextremismus nicht doch ein Fakt ist.
Die Angehörigen leiden nicht nur an der Tat
Der Verfassungsschutz hat den NSU eher begünstigt als bekämpft. Und es gibt in Deutschland keine linksradikalen Chatgruppen bei Polizisten, wohl aber rechtsextreme. Unter anderem in Hessen, 13 in der Hanauer Tatnacht eingesetzte SEK-Beamten waren exakt in solchen Räumen unterwegs.
Was sagte der damalige hessische CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier später zu den Angehörigen? Dass eine rassistische Gesinnung von Polizisten ja nicht bedeute, dass sie ihren Job nicht gut machen würden.
Nicht zu vergessen der Vater des Hanauer Mörders. Er ist ebenfalls ein manischer Rassist, er terrorisiert bis heute die Menschen, deren Angehörige durch seinen Sohn umgebracht wurden. Das alles ist gerichtlich festgestellt, auch, dass er damit immer weitermachen wird. Doch was sagt die Richterin? Das sei etwas, „was die Gesellschaft ertragen muss“.
Und da ist Ibrahim Akkus. Achtmal schoss der Rassist auf ihn, er überlebte, ist heute ein Pflegefall. Seine Familie fühlt sich alleingelassen.
So geht es ihnen allen, den Hinterbliebenen von Hanau. Kein einziger fühlt sich vom deutschen Staat ernst genommen. Es gibt kein Schuldeingeständnis von staatlicher Seite, obwohl es neben dem SEK-Vorfall noch mehr Fehler gab, etwa den am Tatabend nicht zu erreichenden Hanauer Polizeinotruf.
Çetin Gültekin, der am 19. Februar seinen Bruder Gökhan verlor, hat diese Wut in ein Buch gefasst, „Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland“ heißt es. Es ist ein Stück deutscher Migrationsgeschichte, ein herzzerreißendes Zeugnis familiärer Liebe und ein kaum erträglicher Bericht über die Vernichtung dieser Liebe durch kalten Hass. Wer es liest, dem ist der 19. Februar nicht mehr egal.
Halle, Hanau, NSU – was lernen wir daraus?
Umso mehr denkt man: Ja, wir müssen Lehren ziehen aus Aschaffenburg, Solingen, München. Aber auch aus Halle, Hanau, dem NSU, dem Olympia-Einkaufszentrumsanschlag.
Alle Politiker kennen diese Anschläge. Und man fragt sich, ob diejenigen von ihnen, die sich als bürgerlich oder gar christlich begreifen, in stillen, schlaflosen Nächten der Reue nicht doch erkennen, dass jeder unnötige Schritt nach rechts einer Richtung Abgrund ist. Aber es geht um noch viel mehr.
Sagen wir ihre Namen: Gökhan Gültekin (37), Sedat Gürbüz (29), Said Nesar Hashemi (21), Mercedes Kierpacz (35), Hamza Kurtovic (22), Vili Viorel Paun (22), Fatih Saraçoglu (34), Ferhat Unvar (23), Kaloyan Velkov (33), die Getöteten von Hanau, heimisch in Deutschland, sie starben ausschließlich aus einem Grund, für den niemand etwas kann: wegen ihrer Herkunft.
Eine Zufallsvariable wird zum Qualitätsmerkmal gemacht, und nein, so kategorisieren nicht nur Rassisten. Diese Einteilung in gute und schlechte Herkunft ist der wahre, hässliche Kern aktueller gesellschaftlicher Diskussionen.
Und wir sollen sie nicht vergessen, die Toten von Hanau, die uns zeigen, wohin diese Denkmuster führen.