Für Khodadad Ataiy scheint die letzte Chance, außer Landes zu kommen, verloren. Der afghanische Soldat hatte sich mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn von Herat auf die gefährliche Reise nach Kabul gemacht. Nach 20 Stunden Busfahrt harrte er einen Tag lang am Flughafen aus, der SÜDKURIER berichtete. Doch nun sind die letzte Evakuierungsflüge der Bundeswehr beendet.
Dabei hatte sich der 25-Jährige, der unter anderem in Donaueschingen bei der Bundeswehr eine Ausbildung zum Oberleutnant gemacht hatte, um sich später der afghanischen Armee anzuschließen, bis zum Abbey Gate durchgekämpft. Es ist das Zugangstor zum Flughafen, so hatte es sich herumgesprochen, von dem aus man am ehesten aufs Flughafengelände gelangen konnte. Am Abend ging genau dort eine Bombe hoch.

Viele Vermisste
„Jetzt ist der Kontakt zu einigen abgerissen“, sagt Lucas Wehner, Regionalbeauftragter im Schwarzwald vom Patenschaftsnetzwerk für afghanische Ortskräfte. Er ist auch mit Ataiy in Kontakt. Der hatte das Gate nur zwei Stunden vor dem Anschlag verlassen. Er hatte keine Kraft mehr, um seine Familie im Gedränge der Menschen zu beschützen. „Ich musste die ganze Nacht aufpassen“, schreibt er dem SÜDKURIER über WhatsApp – immer bestand die Gefahr, dass die Menschenmassen seine Frau und das Kind tottrampeln.
Dass die Familie das Gate verlassen hatte, war möglicherweise ihre Rettung. Sie ist in einem Hotel wenige Kilometer vom Flughafen entfernt untergekommen, schreibt er. Lange werden die Drei nicht bleiben können – „es ist zu teuer“, schreibt Ataiy.

Später schickt er verstörende Videos, die den Ort des Anschlags zeigen sollen. Sie stammten von einem Freund, so Ataiy. Reglose Körper liegen im flachen Wasser des Flussbetts, das die Mauer von der Umgebung abtrennt. Auf der Oberfläche schwimmen einzelne Sandalen. Am Ufer liegen Leichen zwischen Schutt und Abfall. „Das ist erschreckend“, ist alles, was Ataiy selbst über die Bilder sagen kann.

Ataiy versucht am Tag nach dem Anschlag erneut, zum Flughafen zu kommen. Seine Familie lässt er im Hotel, um sie nicht erneut in Gefahr zu bringen, wie er schreibt. Später soll ein Verwandter sie zum Flughafen bringen. Doch Ataiy kommt nicht weit. Die Taliban haben den Flughafen abgeriegelt, keiner kommt mehr durch. Es war Ataiys letzte Hoffnung. „Meine Pläne sind alle erfolglos“, schreibt er resigniert.

Flucht in den Iran
Wehner vom Patenschaftsnetzwerk sagt dem SÜDKURIER: „Die Lage in Afghanistan ist sehr schwierig. Wir arbeiten selbst an einem Verfahren, wie wir Menschen von dort herausholen können.“ Noch sei aber nichts spruchreif.
Im Gespräch sind offenbar auch Charterflüge aus dem umliegenden Ausland. Doch die Flüge sind teuer, mit mehreren 100.000 Euro pro Chartermaschine ist zu rechnen. Und die Menschen müssten dafür aus Afghanistan flüchten, die von den Taliban kontrollierten Grenzen passieren.
Wehner erklärt: „Die erste Priorität ist, uns einen Überblick zu verschaffen, wer es außer Landes geschafft hat und wer zurückgelassen wurde.“
Das Auswärtige Amt habe während der gesamten Evakuierungsmission nicht in Kontakt mit dem Netzwerk gestanden. Die Nummer des Krisenreaktionszentrums ist inzwischen wieder wählbar – es gibt ein Freizeichen. Aber niemand nimmt ab. Ob Ataiy auf der Liste der Evakuierungsmission stand, bleibt offen.
Rückkehr nach Herat
Wehner versucht nun herauszufinden, ob der afghanische Soldat eine Chance hätte auf ein Visum, wenn er es in den Iran schafft. Andere Länder schließt der 33-jährige Regionalbeauftragte aus: „Pakistan weist afghanische Flüchtlinge zurück, Usbekistan tut gerade das Gleiche. Das geringere Übel ist da wohl der Iran, so gefährlich das sein wird“, so Wehner.

Ataiy will noch bis zum Wochenende in Kabul bleiben, bevor er nach Herat zurückkehrt. Die Hoffnung, einen Pass zu bekommen, hat er noch nicht aufgegeben. „Ich habe alle offiziellen Dokumente fertig gemacht“, betont er immer wieder. Wehner glaubt nicht, dass die Taliban Pässe ausstellen werden. „Nach Herat zurückzukehren ist zu gefährlich“, warnt er Ataiy.
Doch der Soldat sagt, er habe keine Wahl: „Wenn ich nicht nach Herat zurückkehre, dann kann ich nirgendwohin.“ Das Geld reiche nicht aus, um in Kabul zu bleiben. Zu Hause in Herat habe er noch ein paar Lebensmittel und ein Dach über dem Kopf. Wenn auch ein unsicheres. Dass die Taliban ihn dort finden könnten, nimmt er in Kauf.
Wenn sich eine Möglichkeit ergibt, will er in den Iran flüchten, um dort ein Visum für Deutschland zu bekommen: „Das kann ich sicherlich bekommen“, gibt er sich zuversichtlich. Zuversicht ist alles, was ihm bleibt.