Manchmal verraten Bilder mehr als jeder Lagebericht. Am Flughafen von Kabul irren Menschen von Tor zu Tor, werden von US-Soldaten zurückgedrängt und von Taliban-Kämpfern verprügelt. Frauen reichen ihre Babys über den Stacheldrahtzaun, damit wenigstens diese in Sicherheit sind. Junge Männer klammern sich an die Fahrwerke startender Maschinen und stürzen in den Tod.

Einheimische, die den Deutschen und anderen westlichen Truppen in den vergangenen 20 Jahren geholfen haben, verstecken sich in ihren Kellern, weil sie den neuen Herren Afghanistans als Kollaborateure gelten. Die Einsicht in Berlin kommt für diese Ausgelieferten zu spät. Verraten und verlassen können sie nur auf die Gnade der Taliban hoffen.

Die ganze Regierung hat versagt

Dass der Einsatz am Hindukusch ungut enden würde, ahnten viele. Aber so? Selten hat eine Bundesregierung einen derart desolaten Eindruck hinterlassen wie in diesen Tagen. Beim Fall von Kabul geht es nicht nur um Fehleinschätzungen einzelner Minister: Versagt hat eine ganze Regierung, so als wäre ihr jeder Kompass abhanden gekommen.

Die Planlosigkeit des Rückzugs erschüttert das Vertrauen in die Regierenden in Berlin bis ins Mark. Die Folgen dieser außenpolitischen Katastrophe sind noch nicht absehbar, weder in Deutschland noch sonst irgendwo in der Welt. Klar ist nur: Über Auslandseinsätze wird man künftig anders reden, sofern es überhaupt noch welche gibt.

Darüber freuen können sich nur die Taliban und alle anderen bärtigen Kämpfer in der islamischen Welt. Westliche Geheimdienste, Militärs und Außenministerien sind bis auf die Knochen blamiert – was für eine Genugtuung für die Korankrieger fast 20 Jahre nach dem Einmarsch der Amerikaner.

Die USA und ihre westlichen Verbündeten investierten Milliardensummen, bauten eine Armee mit 300.000 Mann auf. Das Land und seine Menschen verstanden haben sie offenbar nicht. Nur so ist erklärbar, dass alle Fassaden einstürzten, als die ausländischen Truppen den Rückzug antraten. Plötzlich sollte die von Korruption zerfressene afghanische Armee ohne fremde Hilfe kämpfen. Sie kapitulierte lieber.

War der gesamte Einsatz umsonst?

War also alles umsonst? Fast 60 Bundeswehrsoldaten sind in Afghanistan gestorben, andere wurden verletzt oder traumatisiert. Mit Verbitterung muss die Truppe feststellen, wie leichtfertig die Früchte ihres Einsatzes geopfert werden und wie planlos der Rückzug durchgezogen wird: Die Weltmacht USA rückt ab, die deutschen Verbündeten trotten hinterher.

An die einheimischen Helfer bei der Truppe, in den Botschaften und in der Entwicklungshilfe denkt niemand, erst recht nicht an die Mädchen und Frauen, die den Verheißungen glaubten, die Burka vom Leib rissen und nun den Taliban ausgeliefert sind. Der Versuch des Westens, seine Werte in einen anderen Kulturkreis zu exportieren, endet im Chaos, das Land fällt an eine Terrortruppe.

Militärische Interventionen lassen sich unter diesen Umständen künftig nur noch schwer durchsetzen: Der Einwand „Aber Kabul...“ dürfte jede Debatte überschatten. Sicherer wird die Welt dadurch nicht. Gescheitert ist das Experiment am Hindukusch, weil es sich zu viel vorgenommen hatte und die Ziele im Lauf der Zeit im Nebeldunst verschwammen. 2015 beteiligte sich die Bundeswehr an der Rettungsmission für die Jesiden im Norden des Irak. Als die Schlächter des Islamischen Staats abgewehrt waren, rückte sie wieder ab.

In Afghanistan hingegen ging es nur anfangs darum, nach den Anschlägen des 11. September die Terroristen der Al Kaida aus dem Land zu jagen. Im Lauf der Jahre kamen weitere Ziele dazu: eine wohlgesonnene Regierung, Wahlen, Demokratie. Am Ende ging es sogar um den Frauenanteil im afghanischen Parlament. Wen wundert es, dass die Truppen aus dem fernen Westen im Land nie wirklich Fuß fassten? Für weite Teile der Bevölkerung blieben sie Fremde mit falschen Ansichten und falschen Absichten.

An Warnungen fehlte es nicht

Daher klingt die Verblüffung in Regierungskreisen über das klägliche Scheitern dieser Mission wenig glaubwürdig. Auch wenn die Minister anderes behaupten, hat es an Warnungen nicht gefehlt. Bei der Bundeswehr soll bereits im April ein Evakuierungsplan für Ortskräfte erarbeitet worden sein. Es verschwand in einer Schublade.

Ende Juni brachten die Grünen das Thema in den Bundestag. Der Antrag wurde mit den Stimmen von Union und SPD abgeschmettert. Auch CDU-Politiker wie Norbert Röttgen sahen das Unheil kommen und schlugen Alarm. Sie blieben einsame Rufer in der Wüste. Viele trugen zu diesem Desaster bei, quer durch die Stuhlreihen des Kabinetts bis zum Platz der Kanzlerin, die ebenfalls nichts merkte. Düsterer könnte der Schlusspunkt für Angela Merkel nach 16 Jahren Kanzlerschaft nicht sein.