Hätte es in den vergangenen Tagen und Wochen nicht so ausgiebig geregnet, hätte man diesen Abend auf der Werkstattbühne der Bregenzer Festspiele vielleicht ganz anders wahrgenommen. Wo wie derzeit in Südeuropa und darüber hinaus glühende Hitze herrscht, muss jeder Wassertropfen eine Erlösung sein. Dort aber, wo Starkregen Hangrutsche auslösen und in der Folge zu einem verheerenden Zugunglück führen können, wird das Wasser zur Bedrohung. Wasser rettet Leben und es zerstört Leben – beide Kräfte sind in diesem Element aufgehoben. Und ganz ähnlich changiert auch das Tanztheater „Study for Life“ der Tero Saarinen Company zwischen Resignation und Hoffnung, zwischen Dystopie und Utopie.

Im Foyer der Werkstattbühne stimmt die Klanginstallation „To Water“ auf den Abend ein. Ein schmelzender Eisblock hängt von der Decke. Die Wassertropfen fallen in eine Schale, werden auch akustisch aufgefangen, mittels Elektronik vergrößert und wie eine Glocke über den Raum gestülpt. Man kann darin eine gewisse Poesie entdecken – oder eine bedrohliche Situation.

Unter einer großen Klangkuppel

Geschaffen hat diese Installation der Sounddesigner Tuomo Norvio. Mit seiner Elektronikkunst hat er auch die verschiedenen Werke der finnischen Komponistin Kaija Saariaho, aus denen sich „Study for Life“ zusammensetzt, gewissermaßen akustisch amalgamiert. Das Publikum sitzt dabei um die Tanz- und Spielfläche herum inmitten der riesigen Klangkuppel, die Norvio über ihm aufspannt. Auch hier gilt: Man kann eintauchen in diese immersive Klangwelt, aber nicht immer fühlt man sich behaglich darin. Wenn etwa langsam pulsierende Bässe den Boden beben lassen und Regengeräusche sich in den Raum ergießen, stellt sich unmittelbar eine katastrophische Stimmung ein. Ebenso wenn vier Tänzer mit stroboskopartigem Licht (Licht und Bühne: Fabiana Piccioli) und zugleich mit Geräuschen beschossen werden, die an Kurzschlüsse denken lassen.

Ein Paar findet sich zum intensiven Zweiertanz.
Ein Paar findet sich zum intensiven Zweiertanz. | Bild: Anja Köhler

Dem stehen die Momente der Hoffnung und der Erlösung gegenüber, die sich dort einstellen, wo Saariahos Musik selbst zu klingen beginnt. So rollen Tänzer und Tänzerinnen einen Cellisten auf einem Podest auf die spiegelglatte Tanzfläche und gruppieren sich bald um ihn herum wie Schiffbrüchige, die ihm seine Rettung verdanken. Daneben findet ein Paar zusammen und richtet sich gemeinsam auf zu einem intensiven und berührenden Pas de deux.

Bereicherung des Festspielprogramms

Dass die Bregenzer Festspiele Tanztheater im Programm haben, ist ungewöhnlich. Gleich für zwei sehr unterschiedliche Produktionen hat die neue Intendantin Lilli Paasikivi die Kompagnie ihres Landsmanns Tero Saarinen eingeladen und damit das Festspielprogramm bereichert. Ging es in „Borrowed Light“ um die amerikanische Freikirche der Shaker, so entsprang „Study for Life“ dem Wunsch einer Zusammenarbeit zwischen Tero Saarinen und der Komponistin Kaija Saariaho. Kurz vor ihrem Tod – Saariaho starb 2023 mit 70 Jahren an einem Hirntumor – beschlossen sie, Saariahos Frühwerk „Study for Life“ zum Ausgangspunkt des gemeinsamen Abends zu machen. Das Stück für Sopran und Elektronik basiert auf einem Ausschnitt aus T.S. Eliots Gedicht „The Hollow Men“ (1925), das dieser unter dem Eindruck des 1. Weltkriegs geschrieben hatte und das eine Welt emotionaler Erstarrung beschreibt.

Das Ensemble Asko Schönberg ist Teil der Choreografie.
Das Ensemble Asko Schönberg ist Teil der Choreografie. | Bild: Mikko Suutarinen

Das klingt eher düster, aber Saariaho zieht in ihre Musik immer auch einen Boden der Hoffnung ein. Sie liebt helle, himmelwärts gerichtete Klänge wie die von Glocken und Glockenspiel, Harfe oder Flöte, die später mit dem übrigen Ensemble Asko Schönberg auch Teil der Choreografie werden. Auch der wunderbare glockenhelle Sopran von Raquel Camarinha steigt immer wieder in himmlische Höhen.

Ihre Auftritte stehen am Anfang und am Ende des Abends – dem düsteren Text von T.S. Eliot stehen zwei poetische französische Gedichte von Amin Maalouf über die Liebe gegenüber. Die Textverständlichkeit muss zwar der gelegentlich sehr dominanten elektronischen Bearbeitung mit Hall und Loops weichen, aber auch so wird die allmähliche Öffnung des Abends im Sinne eines Lichtblicks deutlich. Tero Saarinen spricht davon, „Study for Life“ kreise um das Verlangen nach Verbundenheit in einer fragmentierten Welt.

Wie ein Flüchtlingstreck zieht die Menschenkette quer über die Bühne.
Wie ein Flüchtlingstreck zieht die Menschenkette quer über die Bühne. | Bild: Mikko Suutarinen

Anfangs bilden die sechs Tänzer und Tänzerinnen mit den Musikern und Musikerinnen eine lange Menschenreihe wie ein Flüchtlingstreck. Auf der spiegelglatten Fläche scheinen sie Halt und Orientierung zu suchen. Gelegentlich legen sie sich erschöpft auf den Boden oder begeben sich in Hab-Acht-Stellung. Optisch strömt Regen auf sie herab. Erst allmählich entstehen neue Konstellationen, wird das Cello zum Hoffnungsträger, bringt das achtköpfige Instrumentalensemble etwas wie Stabilität in die Situation.

Gefängnis oder Schutzraum?

Ganz am Schluss senkt sich ein riesiger Schleier über die Sopranistin Raquel Camarinha und umschließt sie wie ein Moskitonetz. Gefängnis oder Schutzraum? Da ist sie wieder, diese Mehrdeutigkeit, die den gesamten Abend durchzieht. Und gerade sie macht ihn zu einem herausfordernden und faszinierenden Erlebnis.