Was bei der westlichen Unterstützung für die Ukraine schiefläuft, zeigt eine vielsagende Anekdote, die der britische Verteidigungsminister Ben Wallace diese Woche beim Nato-Gipfel in Vilnius erzählte. Im vergangenen Jahr sei er nach Kiew gefahren, die Fahrt dauerte elf quälende Stunden.

Kaum dort angekommen, habe ihm die ukrainische Regierung eine Wunschliste mit Waffen unter die Nase gehalten. Die Antwort des Briten lässt tief blicken. „Ich bin nicht Amazon!“, blaffte der Besucher aus London zurück. Und, noch deutlicher: Die Staaten im Westen wollten nicht ständig neue Forderungen sehen, sondern endlich einmal etwas mehr Dankbarkeit.

Mit seiner Kritik am Auftreten der ukrainischen Führung spricht der britische Verteidigungsminister sicherlich vielen Menschen im Westen aus der Seele. Die Nato ist kein Lieferdienst. Trotzdem führen Einwände wie diese in die Irre. Sie unterstellen, dass die Nato-Staaten die Ukraine nur unterstützen, weil sie es für moralisch geboten halten, einem derart brutal angegriffenen Volk zur Seite zu stehen. Tatsächlich geht es um mehr.

Diesen Krieg führen die Ukrainer nicht allein für sich selbst, sondern für ganz Europa. Hätten sie nicht von der ersten Stunde an erbitterten Widerstand gegen die russischen Invasoren geleistet, stünden Putins Panzer heute an der Grenze zu Estland, Lettland und Litauen – oder noch weiter westlich. Die große Konfrontation mit Russland, vor der sich auch in Deutschland viele fürchten, sie wäre längst da.

Die Ukraine in ihrem Überlebenskampf zu unterstützen, liegt daher im ureigenen Interesse aller Europäer. Blickt man auf die mageren Ergebnisse des Nato-Gipfels in Vilnius, keine halbe Autostunde von Putins Aufmarschgebiet in Belarus entfernt, ist diese Erkenntnis offenbar immer noch nicht überall angekommen.

Nach Litauen reiste der ukrainische Präsident, weil er sich eine Einladung zum Beitritt erhoffte – oder zumindest einen Fahrplan, der sein Land nach dem Ende des Krieges in die Nato führt. Bei den baltischen Staaten rennt Selenskyi offene Türen ein. Nicht so beim amerikanischen Präsidenten und beim deutschen Kanzler. Joe Biden und Olaf Scholz können sich weder zu einem klaren Bekenntnis zur Ukraine durchringen noch zu einem konkreten Zeitplan für einen Beitritt.

Die Gründe für das Zögern liegen auf der Hand. Scholz fürchtet im Fall eines ukrainischen Nato-Beitritts einen direkten Konflikt zwischen Russland und dem Westen. Biden scheint diese Sorge zu teilen. Sogar Selenskyj kann sie nachvollziehen. „Niemand will einen Weltkrieg“, sagt der ukrainische Präsident. Das kann aber kein Freibrief für eine Beschwichtigungspolitik alten Stils sein, die bisher immer nur Putin genutzt und am Ende in den Krieg gemündet hat.

Bis heute tut sich Scholz schwer, aus diesem Scheitern alle notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Der Kanzler schickt zwar Waffen, zählt aber penibel jede Patrone. Abstandswaffen wie die Marschflugkörper vom Typ Taurus hat die Bundesregierung immer noch nicht freigegeben. Offenkundig steht hier jemand mutwillig auf der Bremse. Allem Anschein nach sitzen die Blockierer weder in der SPD-Fraktion noch in den Ministerien, sondern direkt im Kanzleramt.

Was will der Bundeskanzler?

Nach dem Gipfel wird Scholz somit zu Recht von alten Zweifeln eingeholt. Was will der Bundeskanzler? Ein Ende des Krieges, erkauft mit faulen Kompromissen? Oder den Sieg der Ukraine? Einen vollständigen Rückzug Russlands? Das Ziel seiner Ukraine-Politik hat der SPD-Kanzler nie definiert. Außenministerin Annalena Baerbock geht in dieser Frage deutlich weiter.

Ein Ende der Gewalt im Osten Europas wird es erst geben, wenn die Not der russischen Truppen so groß ist, dass sie dem Kremlchef die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens vor Augen führt. Zugleich braucht die Ukraine Sicherheitsgarantien, selbst für den Fall eines Sieges. Nur sie ersparen es dem ausgebluteten Land, so wie Israel künftig sämtliche Ressourcen in Rüstung und Sicherheit zu stecken. Diesen Schirm kann nur die Nato liefern – nicht heute, vielleicht aber morgen.

Vorausgesetzt, der Westen weiß, was für ihn selbst auf dem Spiel steht. Mit ihrer lange angekündigten Offensive kommen Selenskyjs Streitkräfte nur mühsam voran, weil es an Artillerie, Munition und Kampfflugzeugen fehlt. Daran ändern auch alle Beitrittsdebatten und Zukunftsszenarien nichts.

Wichtiger ist, was das Bündnis im Augenblick unternimmt, um dem überfallenen Land zu helfen, sich gegen die Besatzer zu wehren und sie aus dem Land zu treiben. Misslingt dies, erledigt sich die Frage einer ukrainischen Nato-Mitgliedschaft – davor warnt Generalsekretär Jens Stoltenberg zu Recht. Dann gibt es keine Ukraine mehr, mit der man Verträge schließen könnte. Die Folgen bekäme ganz Europa zu spüren.