Ob Wladimir Putin Alpträume hat, ist nicht bekannt. Doch wenn er sie hat, dann dürfte Igor Girkin darin eine Hauptrolle spielen. Vielleicht käme auch ein verfaulter Fisch vor.

Denn das ist das Bild, mit dem der populäre Militärblogger seine Frontalkritik am Präsidenten eröffnete. Ein Fisch stinke bekanntlich vom Kopf, erklärte Girkin im Dezember, und der Kopf sei in Russland „völlig verrottet“.

Militärblogger droht mit Revolten

Der ehemalige Geheimdienstmann bezog das auf die „katastrophale“ Kriegsführung in der Ukraine. Wenig später stellte Girkin klar, dass er nicht allein den viel gescholtenen Verteidigungsminister Sergei Schoigu gemeint habe: „Unser Präsident schiebt alles Schoigu zu. Das ist Blödsinn.“ Selbst eine Amtsenthebung Putins hält der 52-Jährige nicht für die schlechteste Idee.

Militärblogger Igor Girkin kritisiert die russische Armeeführung und auch Putin persönlich immer wieder scharf.
Militärblogger Igor Girkin kritisiert die russische Armeeführung und auch Putin persönlich immer wieder scharf. | Bild: EPA/Photomig/dpa

Was Girkins Attacken für den Kremlchef so gefährlich macht: Der ultranationalistische Blogger ist in der Armee und den Diensten bestens vernetzt. Vor allem in der zweiten und dritten Reihe. Dort, wo die Empörung am größten ist, weil das massenhafte Sterben in der Ukraine besonders nah ist. Girkin droht offen: „Wenn die Regierung so weitermacht, gibt es Revolten.“

Was es bräuchte, um Unruhe im Militär in einen Umsturz zu verwandeln, sind allerdings geeignete Anführer. Girkin kommt dafür eher nicht in Frage. Obwohl er 2014 den russischen Umsturz auf der Krim mit organisierte und so die Annexion vorbereitete. Später operierte er unter dem Tarnnamen Igor Strelkow im Donbass. In Moskau hat Girkin aber wenig Einfluss.

Putin und seine handzahmen Helfer

Westliche Fachleute sind ohnehin überzeugt, dass Putin längst ein diktatorisches System errichtet hat, in dem keine Herausforderer in Sicht sind. „Der Kreis um den Führer“, erklärt etwa der Osteuropa-Historiker Benno Ennker, sei „auf ein paar Wenige zusammengeschmolzen“.

Sie alle stammten aus dem Militär und den Geheimdiensten. Gemeint sind die berüchtigten „Silowiki“, zu Deutsch: die Starken. Doch selbst diese Männer – und es handelt sich ausschließlich um Männer – hat Putin mittlerweile zu handzahmen Helfern degradiert.

Zu beobachten war das kurz vor dem Überfall auf die Ukraine, als Putin den Sicherheitsrat bei sich antreten ließ. Zwischen den meterdicken Marmorsäulen des Kremls hockten die Mächtigsten der Mächtigen aufgereiht wie Schuljungen vor ihrem Präsidenten.

Premier, Außen- und Verteidigungsminister, die Chefs des Generalstabs und der Geheimdienste: Putin ließ einen nach dem anderen ans Pult treten, damit sie ihr Ja zu Protokoll gaben. Zur Anerkennung der „Volksrepubliken“ im Donbass und damit zum Krieg. Als sich der Leiter der Auslandsaufklärung Sergei Naryschkin verhaspelte, demütigte Putin ihn vor laufenden Kameras: „Sprechen Sie in geraden Sätzen.“

Der russische Präsident hat die Mächtigsten der Mächtigen hinter sich versammelt – nur wenn sie sich gegen ihn wenden, ist ein ...
Der russische Präsident hat die Mächtigsten der Mächtigen hinter sich versammelt – nur wenn sie sich gegen ihn wenden, ist ein Umsturz denkbar. | Bild: Sergei Guneyev/AFP

Es war eine Lektion wie aus dem KGB-Handbuch. Denn Putin demonstrierte nicht nur seine Stärke. Zugleich wälzte er die Verantwortung für den Krieg auf den Sicherheitsrat ab und holte die Silowiki zu sich ins Boot.

Von dem Moment an, in dem sie ihr „Ja“ aussprachen, waren sie allesamt mitgefangen und mitgehangen – ein gängiges Verfahren schon in sowjetischen Machtzirkeln. Dort, wo Putin als KGB-Offizier sein Handwerk lernte. Womit der Kremlchef allerdings nicht rechnete, war das, was folgte: ein langer Krieg voller Niederlagen, in dem mittlerweile das „System Putin“ als Ganzes infrage gestellt wird.

Wird das russische Regime den Krieg überleben?

Nicht nur Ennker glaubt, dass ein Scheitern in der Ukraine für das Regime „existenzgefährdend“ wäre. Ähnlich äußert sich der langjährige außenpolitische Putin-Berater Sergei Karaganow: „Es ist für ihn ein überlebenswichtiger Krieg.“ Das ist der Punkt, an dem wieder Igor Girkin ins Spiel kommt. Denn Fachleute wie der Bremer Protestforscher und Russlandkenner Jan Matti Dollbaum sind überzeugt, dass nur eine „schlagkräftige und disruptive“ Revolte das Regime ins Wanken bringen könnte.

Die Kriegsführung bestimmt die Beliebtheit der russischen Regierung: Bleiben militärische Erfolge in der Ukraine aus, wächst der Unmut ...
Die Kriegsführung bestimmt die Beliebtheit der russischen Regierung: Bleiben militärische Erfolge in der Ukraine aus, wächst der Unmut in der Armee und auch in der Bevölkerung. | Bild: Ukrinform/dpa

Besonders im Fokus stehen dabei die Sonderpolizei Omon und vor allem die Armee. Nur wenn sich „signifikante Teile“ des Machtapparats weigerten, Befehle auszuführen, könne ein autoritäres Regime stürzen, erläutert Dollbaum.

Klar dürfte sein: Je mehr Soldaten die Militärführung an der Front „verheizt“, um Putins Vorgaben zu erfüllten, desto schneller wachsen Verbitterung und Empörung in der Armee. Vor allem, wenn die Erfolge ausbleiben. Und je mehr „frische“ Soldaten das Regime mobilisieren muss, desto tiefer dringt der Unmut in die Gesellschaft vor.

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Girkin und andere Blogger sind in diesem Sinne vor allem Schallverstärker einer vorhandenen Wut. Wie weit der Pegel anschwillt, hängt vor allem vom Kriegsverlauf ab.

Eine ganz andere Frage ist, wer im Falle einer Revolte die nötigen Fähigkeiten hätte, um Putin die Macht zu entreißen.

Putins möglicher Nachfolger?

Die Silowiki, die der Präsident vor dem Krieg zu sich ins Boot geholt hat, kommen dafür so wenig in Frage wie Hasardeure vom Typ eines Jewgeni Prigoschin. Zumal der Chef der Söldnergruppe Wagner seine Kämpfer in der Ukraine noch gnadenloser in den Tod schickt als die reguläre Militärführung.

Als Nachfolger wäre daher eher einer jener langjährigen Putin-Getreuen denkbar, die nicht direkt mit dem Krieg zu tun haben.

Jewgeni Prigoschin, der Leiter der Söldnertruppe Wagner. Er hat zwar viel Macht, ist aber als Putin-Nachfolger nicht denkbar.
Jewgeni Prigoschin, der Leiter der Söldnertruppe Wagner. Er hat zwar viel Macht, ist aber als Putin-Nachfolger nicht denkbar. | Bild: dpa

Vor allem gilt das für die Mächtigen in der Staatswirtschaft, deren Geschäfte unter den westlichen Sanktionen massiv leiden.

Ein Mann wie Igor Setschin etwa, der Chef des Ölkonzerns Rosneft, gehörte einst selbst den Silowiki an. Der 62-Jährige mit dem Spitznamen „Darth Vader“ gilt als Strippenzieher ohne Skrupel. Seit Kriegsbeginn ist Setschin weitgehend abgetaucht. Dass er in der Lage wäre, Putin den Weg in ein sicheres Exil zu ebnen und die Machteliten zusammenzuhalten, daran zweifelt in Moskau niemand.