Was geht vor in Nancy Faeser, als sie am Sonntagnachmittag in ihrer alten Grundschule im hessischen Schwalbach ihren Wahlzettel in die Urne wirft? Ahnt die schwarz gekleidete blonde Frau, wie dick es für sie in ein paar Stunden kommen wird? Dass sie am Abend die ganz große Verliererin dieser „kleinen Bundestagswahl“ sein wird?

Das einst rote Hessen für die SPD zurückholen, so lautete ihr Auftrag, als Bundesinnenministerin schien ihre Ausgangsposition glänzend. Dabei warnten schon bei der Nominierung zur Spitzenkandidatin im Februar viele vor einem schwierigen Spagat zwischen Berlin und Wiesbaden. Dass es um ihre Zukunft geht, weiß die 53-Jährige. Am Vortag, beim Wahlkampf-Finale in Marburg, sagte sie: „Rücktritt? Fragen Sie mich das morgen.“

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Noch kurz zuvor hatten Medien unter Berufung auf „führende Regierungskreise“ gemeldet, dass Kanzler Olaf Scholz auch im Falle einer Niederlage an Faeser als Bundesinnenministerin festhalten wolle. Aber was sollen Regierungskreise so kurz vor der Wahl auch sagen? In Parteizentrale und Bundestagsfraktion der SPD haben schon vor Tagen die Spekulationen begonnen, wer Faeser nachfolgen könnte, wenn ihr Ergebnis schlimm wird. Viele erwarteten, dass Faeser selbst das Handtuch werfen würde, wenn sie nicht nur CDU-Mann Boris Rhein unterliegen, sondern sogar Platz zwei verfehlen sollte, hinter Grünen und AfD landen würde. Genau danach sieht es am Wahlabend aus.

Bild 1: Landtagswahl Hessen 2023: Faeser-Debakel stresst auch Scholz
Bild: SK

Friedhofsstimmung bei der SPD

Als Faeser nach den ersten Prognosen vor die Genossen tritt, herrscht Friedhofsstimmung. Leider sei die SPD mit ihren Plänen für ein sozialeres Hessen, für kostenfreie Kitas, nicht durchgedrungen. „Für Euch tut‘s mir am meisten leid“, tröstet sie ihr Wahlkampfteam. Und sie? Macht sie als Innenministerin weiter, als wäre nichts geschehen? Über ihre Zukunft verliert sie kein Wort.

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Doch die Hessen-Klatsche ist auch eine Abrechnung mit der Bundesregierung, zu deren wichtigsten Mitgliedern Faeser gehört. Scholz steckt nun in der Zwickmühle. Nach den Regeln der Staatskunst müsste er ein „Wir-haben-verstanden-Signal“ an das Wahlvolk schicken: Es wird sich etwas ändern am Kurs der Ampel. Solche Zeichen sind am mächtigsten, wenn sie sich in personellem Wechsel ausdrücken.

Olaf Scholz‘ Plan für Hessen ist gescheitert

Als der Kanzler seine glücklose Verteidigungsministerin Christine Lambrecht mit dem zupackenden Boris Pistorius ersetzte, gelang ihm das. Andererseits hat er Faeser offenbar versichert, dass eine Hessen-Pleite nicht das Ende ihrer Ministerkarriere bedeute. Er selbst war es ja, der den Faeser-Plan ersonnen hatte: die im Bund zuvor fast unbekannte hessische Landespolitikerin zur mächtigen Bundesinnenministerin machen, damit sie mit diesem Nimbus die einstige rote Bastion zurückerobert.

CDU-Wahlparty: Rheins Vorgänger Roland Koch (li.) und Volker Bouffier (Mitte).
CDU-Wahlparty: Rheins Vorgänger Roland Koch (li.) und Volker Bouffier (Mitte). | Bild: Kirill Kudryavtsev/AFP

Mit den hessischen Genossen wurde die Ampel abgestraft, die gerade keine größere Baustelle als die Migrationspolitik hat. Für die ist Faeser verantwortlich. Doch die Chance, sich dabei zu profilieren, konnte die Juristin nicht nutzen. Dabei schien ihr noch im Juni gelungen zu sein, was in den Jahren zuvor niemand aus der deutschen Politik geschafft hatte: eine Einigung über eine Reform des Europäischen Asylsystems zu erzielen. Doch jüngst waren es Faesers eigene Bedenken, die die Übereinkunft fast wieder platzen ließen. Die Innenministerin, deren Herz weit links schlägt, irrlichterte zunehmend.

Boris Rhein, der blasse Sieger

Zur Wahrheit von Faesers Scheitern gehört auch: Boris Rhein, der alte und voraussichtlich neue Ministerpräsident von Hessen, ist keine Lichtgestalt, die es jeder Konkurrenz schwer macht. Bevor der CDU-Politiker im Mai 2022 Volker Bouffier beerbte, war sein Name selbst vielen Landsleuten kein Begriff.

Er darf laut jubeln: CDU-Ministerpräsident und Wahlsieger Boris Rhein.
Er darf laut jubeln: CDU-Ministerpräsident und Wahlsieger Boris Rhein. | Bild: Arne Dedert/dpa

Mit dem grünen Vize Tarek Al-Wazir, der sich selbst als „Typ Doppelhaushälfte“ bezeichnet, klappt die Zusammenarbeit. In der Bundespartei spielt der Jurist Rhein bislang kaum eine Rolle. Deren Chef Friedrich Merz darf sich durch den Erfolg in Hessen bestätigt sehen. Im Rennen um die Unions-Kanzlerkandidatur hat er wieder bessere Karten, weil Konkurrent Markus Söder mau abschneidet. Boris Rhein dagegen muss verschmerzen, dass sich das Scheinwerferlicht am Abend nicht zuerst auf ihn richtet. Sondern auf Nancy Faeser, die große Verliererin.