Russland wird von einem ehemaligen Geheimdienstchef regiert. Einem Mann, der von der Pike auf gelernt hat, wie man Gegner diskret verschwinden lässt und anschließend die Fingerabdrücke verwischt.

Das sollte niemand aus dem Blick verlieren, wenn Wladimir Putin über seinen Sprecher ausrichten lässt, Spekulationen über seine Mitschuld am Tod von Wagner-Chef Prigoschin seien eine „absolute Lüge“. Glaubt der Kremlsprecher allen Ernstes, dass ihm das jemand abnimmt?

Putins Gegner fallen von Hochhäusern, werden von Kugeln durchsiebt oder stürzen ab

Ob Putin beim Absturz von Söldnerführer Prigoschin die Finger im Spiel hatte, ist zwar nicht erwiesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es sich auch nie nachweisen lassen. Trotzdem ist diese Erklärung die naheliegendste. Der Kremlchef hat ein Motiv, und der Fall fügt sich in das Muster vieler ähnlicher Fälle.

Putins Gegner fallen von Hochhäusern, werden von Unbekannten auf offener Straße mit Kugeln durchsiebt oder sinken nach dem Abendessen mit Vergiftungserscheinungen zu Boden. Oder sie stürzen eben mit dem Flugzeug ab. Nie führen die Spuren direkt zum Kreml, sondern verlieren sich irgendwo in den Weiten Russlands. Wer nicht selbst der Nächste sein will, schaut besser weg.

Auch der Westen hat sich lange gesträubt, das Mafiöse an diesem Regime wahrzunehmen, zumal sich mit der ehrenwerten Gesellschaft an der Moskwa gute Geschäfte machen ließen. Mit seiner Meuterei im Juni hat der Wagner-Chef den Herrscher im Kreml geradezu gezwungen, die Maske fallen zu lassen.

Russland – ein Mafiastaat

Bis dahin konnte Putin einer durch Dauerpropaganda benebelten Bevölkerung weismachen, er habe trotz des militärischen Fiaskos in der Ukraine alles unter Kontrolle. Prigoschins Aufstand änderte alles. Plötzlich sahen die russischen Fernsehzuschauer einen ehemaligen Sträfling, Koch und Kriegsverbrecher, der mit seinen Söldnern auf Moskau vorrückt und den Präsidenten in Schockstarre versetzt.

Eine derartige öffentliche Herabsetzung kann kein Gewaltherrscher auf sich sitzen lassen, wenn er seine Macht nicht gefährden will. Jeder Rentner wird in Moskau von der Polizei zusammengeschlagen, jeder Student wandert ins Straflager, wenn er zum Zeichen des Protests ein leeres Blatt Papier hochhält.

Und da soll Putin tatenlos zuschauen, wenn ein durchgeknallter Söldnerführer Bewaffnete in russische Städte schickt und die Staatsführung offen herausfordert? Der Kremlchef hat mit seiner Rache lange gewartet. Verziehen hat er nichts. Prigoschins Tage waren gezählt, sobald er seine Panzer umkehren ließ.

Putins Zusicherung, er bleibe straflos: eine Lüge, wie so viele andere Lügen auch. Auf ihnen beruht das gesamte System, so wie einst im Kommunismus. Mehr denn je hat es der Westen in Moskau mit einer Regierung zu tun, die alles tut, um an der Macht zu bleiben. Putin fabuliert von altrussischer Größe, appelliert an den tief verwurzelten Patriotismus seiner Landsleute und weckt in ihnen die historisch gewachsene Angst, von westlichen Mächten okkupiert zu werden.

Was Putin verschweigt

Was er verschweigt: Es sind er und seinesgleichen, die Russland seit 20 Jahren systematisch ausplündern, Öl und Gas verhökern und ihre Milliardenvermögen mit Luxusjachten und Villen am Mittelmeer verprassen.

Für sie und nicht für das alte, ehrwürdige Russland ziehen Putins Rekruten im Donbass in die Schlacht. Manche spüren, dass ihre Oberschicht ein falsches Spiel spielt, andere marschieren mit. Wer wo steht, zeigt sich erst, wenn es brenzlig wird.

Beispielsweise, als Prigoschin mit seinen Schergen auf Moskau vorrückte und der Präsident sich in seinem Bunker verschanzte. In Moskau stiegen an diesem Tag die Flugpreise ins Uferlose. Wer konnte, machte sich aus dem Staub.

Was die Blumen für Prigoschin sagen

Russlands Präsident bleibt daher ein Riese auf tönernen Füßen. Jede Blume, die in diesen Tagen in seinem Reich für den Wagner-Chef niederlegt wird, ist ein Misstrauensvotum gegen ihn. An der Macht hält sich der Kremlchef nur, weil er die Bevölkerung immer stärker einschüchtert, Oppositionelle in den Gulag schickt und Gegner ausschaltet. Mit einem solchen Regime kann es keinen Frieden geben – weil es die Sprache, die für Verhandlungen erforderlich ist, gar nicht versteht.

Was will man mit einem Staat, der sich derart auf Lüge, Betrug und Gewalt gründet, denn vereinbaren? Und wie will man überprüfen, ob er seine Verpflichtungen einhält oder ob er sie, so wie nach der Annexion der Krim 2014, lautlos unterläuft?

Die Ukraine macht sich in diesem Punkt nichts vor. Prigoschins mutmaßlicher Tod ändert für sie gar nichts. Die Risse in russischen Machtsystem zeigen sich zwar immer deutlicher. Aber wer gegen Putin ist, ist nicht zwangsläufig gegen den Krieg. Solange sich daran nichts ändert, wird sich das ukrainische Volk auf einen langen Krieg einrichten müssen. So wie der Westen auch.