Herr Kiesewetter, wie lange kann sich die ukrainische Armee gegen die russischen Angreifer noch behaupten?
Hoffentlich bis zur Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine!
Wären die Ukrainer mit einer frühzeitigen Waffenhilfe des Westens jetzt in einer günstigeren Lage?
Davon gehe ich aus. Die USA haben nach der russischen Annexion der Krim 2014 darauf gedrängt, dass die Europäer die Ukraine bewaffnen. Deutschland und Frankreich – konkret Angela Merkel und Francois Hollande – haben das verhindert.
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber hätten wir damals begonnen, die Ukraine zu unterstützen, wäre der Preis für Putin höher gewesen. Aber das ist vergossene Milch. Die Waffen, die die Ukraine jetzt benötigt, sind Hightech-Waffen. Um damit Hilfe zu leisten – was ja auch Ausbildung hieße – ist die Zeit zu knapp.
Militärische Hilfe, nachdem Wladimir Putin im Juni 2021 der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen hatte, wäre ein starkes Signal an die Ukraine und auch an Russland gewesen. Aber diese Chance ist verspielt worden.
Wird Putin die westliche Ukraine von einer Besetzung verschonen?
Das kann ich mir nicht vorstellen, zumal auch Flughäfen dort bereits bombardiert wurden. Putin verfolgt das Ziel eines Gesamtanschlusses der Ukraine. Parallel dazu wird er auch Weißrussland eingliedern. Dort steht am Sonntag ein Verfassungsreferendum an, bei dem es um die Aufgabe des atomwaffenfreien Status geht. Dann ist die Ukraine letztlich filetiert.
Die russische Armee setzt jetzt auch Hightech-Waffen wie Marschflugkörper und Raketen ein, um ukrainische Kommandozentralen und Flugplätze auszuschalten. Ist die Bundeswehr – wenn sie im Baltikum Hilfe leisten müsste – gegen diese Bedrohung gerüstet?
Was sie kann ist, einige tausend Soldaten für die „Nato-Feuerwehr“, die Enhanced Forward Presence, zu stellen. Das machen wir sehr gut, und unsere Soldatinnen und Soldaten sind da auch sehr tapfer. Aber die gesamte Bundeswehr verfügt nur über drei Heeresdivisionen.
Es ist nicht einmal das Ziel erfüllt worden, unsere Brigaden – also jeweils etwa 5000 Soldaten – voll einsatzbereit zu machen. Das heißt, wenn wir eine Brigade für einen Krisenreaktionseinsatz stellen, geht man mit dem Rechen durch die Bundeswehr und klaubt zusammen, was man hat.

Wir sind also nicht verteidigungsfähig?
Genau. Der Grund ist das systematische Sparen seit der Wiedervereinigung. Die einzigen Verteidigungsminister, die einigermaßen im Sinne der Bundeswehr gewirkt haben, aber nicht die Zeit hatten, sich voll durchzusetzen, waren Thomas de Maizière und Annegret Kramp-Karrenbauer.
Muss die Bundeswehr personell anwachsen?
Es geht nicht allein um Zahlen. Wir brauchen gut ausgebildetes Personal und eine exzellente Ausstattung. Länder im demographischen Wandel werden sich keine großen Armeen mehr leisten, sondern müssen auf Hightech setzen und auf die Digitalisierung.
Wir müssen in der Lage sein, Cyberangriffe nicht nur abzuwehren, sondern sie auch selbst zu führen. Masse ersetzt also nicht Klasse.
Wir brauchen auch eine moderne Luftabwehr gegen überschallschnelle Geschosse. Jene haben wir nicht. Es ist also deutlich nachzusteuern. Es ist viel zu viel Geld in alte Strukturen und deren Erhalt gesteckt worden als neue Kriegs- und Bedrohungsbilder in den Investitionen zu berücksichtigen.
Die Beschaffung neuer Waffensysteme dauert Jahre, teils Jahrzehnte. Muss die Bundeswehr sich mehr am aktuellen Markt versorgen?
Man hat immer versucht, das, was auf dem Rüstungsmarkt war, zu verbessern, was zu Missgriffen und Verzögerungen, quasi zu Verschlimmbesserungen, geführt hat. Deswegen brauchen wir eine strategische Kultur in der Sicherheitspolitik, die von einer Bedrohungsanalyse ausgeht, die Bedarfe definiert und die Bundeswehr leistungsfähig anpasst.
Die Idee, wie sie im Ampel-Koalitionsvertrag steht, nämlich eine nationale Sicherheitsstrategie zu formulieren, kommt Jahre zu spät.
Es gibt auch Lücken bei der persönlichen Ausstattung der Soldaten.
Es ist auffällig, das viele Kräfte, die in einen Einsatz gehen, Empfehlungslisten haben, in denen steht, was sie sich zusätzlich privat kaufen sollen. Das kenne ich selbst von Einsätzen, an denen ich teilgenommen habe.
Das Einzige, was an den Uniformen der Soldaten noch gleich ist, ist die Farbe. Alles andere wird selbst zugekauft, teilweise für 3000 bis 5000 Euro. Ist das nicht ein Armutszeugnis für den Arbeitgeber Bundeswehr? Die Generalität hätte hier schon viel früher Stellung beziehen müssen. Es ist ihre Aufgabe, alles zu tun, damit die Politik einen ungefilterten militärischen Ratschlag erhält.
Erst zu schweigen und die Missstände nach der Pensionierung zu kritisieren, halte ich für falsch.
Müssen Soldaten in unserer Region nun mit Einsatzbefehlen rechnen?
Aktuell wird das nicht der Fall sein. Die Wachablösungen und Rotationen das Baltikum betreffend sind ja durchgeplant. Wichtiger ist, dass wir uns jetzt in ganzer Bandbreite darauf einstellen, Flüchtlinge aufzunehmen und humanitäre Hilfe zu leisten.
Die Soldaten sind jedenfalls für die Verbesserung der Bündnisfähigkeit motiviert. Der Grad der Einsatzbereitschaft ist in den vergangenen zwei Jahren besser geworden. Die Truppe wird bald auch in die Lage versetzt werden, ihr Gerät wieder vermehrt wie früher selbst zu reparieren. Man kann nicht alles outsourcen.