Als der Moderator auf dem Berliner Bebelplatz den „Kraftriegel des Bundestagswahlkampfs“ auf die Bühne bittet, da geht ein kurzes, erstauntes Raunen durch das rund 1500 Köpfe zählende Publikum. Denn Gastgeber der Polit-Show ist SPD-Vize Kevin Kühnert und der Mann, den er nun als „Kirsche auf der Torte“ ankündigt, war vor noch nicht allzu langer Zeit sein erklärter Gegner. Als Juso-Chef warf Kühnert seinen ganzen Einfluss in die Waagschale, um den heute so Gepriesenen als Parteichef zu verhindern. Jetzt aber ruhen alle Hoffnungen der Sozialdemokraten, 16 Jahre nach der Abwahl von Gerhard Schröder wieder einen Bundeskanzler zu stellen, auf eben diesem Olaf Scholz.

Als er die rot verhangene Bühne vor der grünen Kuppel der Hedwigs-Kathedrale im Zentrum der Hauptstadt betritt, applaudiert die Menge herzlich. Für einen Nachmittag im August ist es viel zu kalt, doch Scholz hat das Sakko abgelegt und die oberen Knöpfe seines Hemdes geöffnet. Der SPD-Kanzlerkandidat beginnt seine Rede mit ein paar Sätzen zu Afghanistan. Mit einer hämmernden Armbewegung verleiht er seinen Aussagen Nachdruck. Doch wieder einmal zeigt sich: Ein mitreißender Redner ist der kühle Hamburger nicht.

Eigenschaften, die an Angela Merkel erinnern

Dass Scholz vom scheinbar aussichtslosen dritten Rang an die Pole-Position gerückt ist, hat wenig mit Charisma zu tun. Denn darüber verfügt der 63-Jährige nicht, das weiß er auch. Dafür aber über andere Eigenschaften und viele davon erinnern an Angela Merkel, die er als Regierungschefin beerben will: Zielstrebigkeit etwa und den unerschütterlichen Glauben an sich selbst. „Es ist berührend zu sehen, wie viele Bürgerinnen und Bürger mir zutrauen, der nächste Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein“, sagt Scholz auf der Bühne. Mehr Emotionalität gibt es nicht an diesem Nachmittag.

Die Genossen im Aufwind: Wahlkampfkundgebung im Bezirk Mitte.
Die Genossen im Aufwind: Wahlkampfkundgebung im Bezirk Mitte. | Bild: Britta Pedersen, dpa

Aus Martin Schulz‘ Niederlage gelernt

Vom Pathos eines Martin Schulz, der die SPD vor vier Jahren in eine dröhnende Niederlage führte, ist nichts zu spüren. Von der Begeisterung, die Schulz im Publikum entfachen konnte, erst recht nicht. Schulz‘ Scheitern und Scholz‘ aktueller Höhenflug haben mehr miteinander zu tun, als sich auf den ersten Blick erschließt. Denn die Scholz-Kampagne ist in fast allen Punkten das exakte Gegenteil der pompösen Schulz-Strategie.

„Es gibt viele Arten, alles falsch zu machen. Und wir haben alle ausprobiert.“
Ein SPD-Funktionär, der bei den Wahlkämpfen von Martin Schulz und Peer Steinbrück dabei war

Am Rande des Bebelplatzes steht einer, der in den erfolglosen Wahlkämpfen von Peer Steinbrück und Martin Schulz an vorderster Front dabei war. Mit reichlich Sarkasmus in der Stimme sagt er: „Es gibt viele Arten, alles falsch zu machen. Und wir haben alle ausprobiert.“ Der Funktionär, der heute nicht mehr in der ersten Reihe steht, fügt an: „Jetzt muss ich sagen, Scholz und seine Leute machen alles richtig.“

Als Sigmar Gabriel gekniffen hat

Die Niederlage von Schulz mit 20,5 Prozent, dem schlechtesten Ergebnis aller Zeiten, hat eine Arbeitsgruppe der Partei analysiert. Als Gründe des Scheiterns wurden unter anderem ausgemacht: Eine viel zu späte Kandidatenkür durch den zaudernden Parteichef Sigmar Gabriel, der selbst kniff. Das Fehlen strategischer Planung, ein verloren gegangener Bezug zur Stammwählerschaft und mangelnde Kampagnenfähigkeit im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale.

Oft landen „schonungslose Analysen“ von Wahlschlappen schnell in der Schublade. Doch diese Studie wird gelesen. Vor allem von Andrea Nahles und Olaf Scholz. Gemeinsam fassen sie den Plan, ihre Partei wieder auf Kurs zu bringen.

Schmerzliche Erfahrung: Andrea Nahles (links), SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, und der damalige SPD-Parteivorsitzende Martin ...
Schmerzliche Erfahrung: Andrea Nahles (links), SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, und der damalige SPD-Parteivorsitzende Martin Schulz sitzen im Januar 2018 beim SPD-Sonderparteitag zusammen. SPD-Partei- und Fraktionschefin Nahles tritt zurück. | Bild: Oliver Berg, dpa

Doch im Frühjahr 2018 werden die Verwerfungen innerhalb der SPD, zwischen linken Idealisten wie Juso-Chef Kühnert und pragmatischen Realisten wie Scholz werden immer tiefer. Andrea Nahles geht schließlich die Kraft aus, erbittert wirft sie als Parteichefin hin. Es beginnt ein peinliches Schaulaufen der Bewerber-Paare, bei dem am Ende das linke Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans das Rennen macht. Für Scholz, der gemeinsam mit der Landtagsabgeordneten Klara Geywitz angetreten war, ist es die demütigendste Niederlage seiner Laufbahn.

Wuschelköpfig, mit tiefroten Idealen

Leute, die ihm nahestehen, sagen, dass Scholz um den Jahreswechsel auf 2020 kurz davor ist, alles hinzuwerfen. Seine politische Laufbahn zu beenden, die als wuschelköpfiger Gymnasiast mit tiefroten Idealen bei den Hamburger Jusos beginnt. Die ihn in Schlüsselpositionen in der Partei und herausgehobene öffentliche Ämter bringt: SPD-Generalsekretär, Bundesarbeitsminister, Regierungschef des Stadtstaats Hamburg.

Olaf Scholz 1984 auf dem Juso-Bundeskongress.
Olaf Scholz 1984 auf dem Juso-Bundeskongress. | Bild: Gladstone~dewiki/Wikipedia (CC BY-SA 4.0)

Eine Karriere, der er alles unterordnet, für die er unablässig Sachbücher verschlingt, Experten um sich schart, Akten frisst, um dann allein zu entscheiden. Mit dieser Methode schafft er es schließlich zum Bundesfinanzminister und Vizekanzler. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch“, sagt Scholz gerne. Doch die SPD-Mitglieder bestellen die Führung bei anderen.

Auf einmal sind die linken Genossen entzückt

Scholz hadert, leidet. Doch als im Januar der Politikbetrieb wieder beginnt, kehrt er ins Finanzministerium zurück, als wäre nichts gewesen. Allmählich werden die Rufe nach dem GroKo-Ende leiser und verstummen schließlich ganz. Denn in China ist eine unheimliche Krankheit ausgebrochen, die bald Deutschland erreicht. Jetzt schlägt die Stunde des Olaf Scholz. Er kündigt an, mit der „Bazooka“ gegen die Pandemie-Folgen zu schießen, stellt viele Milliarden an Corona-Hilfen bereit. Seine linken Genossen sind entzückt.

Als Doppelspitze abgelehnt: Die Kandidatenpaare Olaf Scholz (l-r) und Klara Geywitz sowie Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken stehen ...
Als Doppelspitze abgelehnt: Die Kandidatenpaare Olaf Scholz (l-r) und Klara Geywitz sowie Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken stehen im Oktober 2019 auf der Bühne nach der Bekanntgabe des Ergebnisses des Mitgliedervotums zum Parteivorsitz der SPD im Willy-Brandt-Haus. | Bild: Jörg Carstensen, dpa

Früher als die Mitbewerber, bereits im August 2020, präsentieren die Sozialdemokraten ihn als ihren Kanzlerkandidaten. Die Öffentlichkeit reagiert teils belustigt: Bei den Werten der SPD sei das ja überflüssig. Einer, der als Parteichef nicht gewollt wurde, als Spitzenkandidat? Aussichtslos, unken Experten. Tatsächlich bildet diese Konstellation heute eine der wenigen offenen Flanken des Sozialdemokraten. Sein Hauptkonkurrent Armin Laschet (CDU) warnt sinngemäß: Wer den pragmatisch auftretenden Scholz wählt, wählt in Wirklichkeit die strammen Linken Esken und Kühnert, die ein wirtschaftsfeindliches Bündnis mit Grünen und Linkspartei anstreben.

In der Not stellt sich ausgerechnet Merkel vor Scholz

Andere Angriffspunkte sind rar. Seine Rolle im Wirecard-Skandal, wo die ihm unterstellte Finanzaufsicht versagte, hat ihm im Wahlkampf bislang wenig geschadet. Auch vom Verdacht, während Scholz‘ Amtszeit als Hamburger Bürgermeister sei die feine Warburg-Bank bei ihren Cum-Ex-Schummeleien zulasten der Steuerzahler geschont worden, ist wenig hängen geblieben. Größter Makel seiner Karriere bleiben die Ausschreitungen linker Chaoten beim G20-Gipfel in Hamburg, auf die Scholz als Bürgermeister schlecht vorbereitet ist. Doch in der Stunde der Not ist es ausgerechnet Angela Merkel, die sich vor ihn stellt, ihn öffentlich verteidigt. Scholz vergisst ihr das nie.

Olaf Scholz (SPD) mit zwei seiner Vertrauten: Sprecher Steffen Hebestreit (links) und Staatssekretär Werner Gatzer (rechts) 2018 bei der ...
Olaf Scholz (SPD) mit zwei seiner Vertrauten: Sprecher Steffen Hebestreit (links) und Staatssekretär Werner Gatzer (rechts) 2018 bei der Präsentation der Steuerschätzung. | Bild: Michael Kappeler, dpa

Dass Merkel im Wahlkampf erst spät für ihren Parteifreund Armin Laschet und halbherzig gegen Scholz einschreitet, ist kein Zufall. Die Kanzlerin und ihr Vize verstehen und schätzen sich, ähneln sich bis in die persönliche Lebensgestaltung hinein. Beide leben kinderlos mit ihrem jeweiligen Ehepartner in Etagenwohnungen. Scholz ist seit 23 Jahren mit der brandenburgischen Bildungsministerin Britta Ernst verheiratet. Im Brigitte-Live-Talk macht er ihr eine Liebeserklärung, sie habe ihn zu einem besseren Menschen gemacht. Einer der wenigen Momente, in denen der Jurist Gefühle zeigt. Doch wie wird eine derart spröde wirkende Person zum Wählermagnet?

Seit 23 Jahren sind Britta Ernst und Olaf Scholz ein Paar.
Seit 23 Jahren sind Britta Ernst und Olaf Scholz ein Paar. | Bild: Axel Heimken, dpa

An einem warmen Abend im Juni sitzt SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil in einem Gartenlokal am Rande der Lüneburger Heide, seiner Heimat. Der 43-Jährige verantwortet den SPD-Wahlkampf, die Strategie, die er da vor einem kleinen Kreis von Journalisten umreißt, lautet verkürzt: Die vermeintliche Not, der Mangel des Kandidaten an Glanz und Glamour, soll zur Tugend gedeutet werden. Es werde eine Weile dauern, doch am Ende würden die Leute erkennen, dass Angela Merkel nicht mehr zur Wahl steht und Scholz am besten die Lücke füllen könne, die sie hinterlässt. Die Medienleute sind skeptisch.

Der Wähler wird geduzt – wie bei Ikea

Auch was Rafael Brinkert, einer der profiliertesten Werber Deutschlands, der etwa für Zalando („Schrei vor Glück“) und pikanterweise auch die CDU gearbeitet hat, erntet Misstrauen. Scholz als „Nerd“, der über mehr Detailwissen als Ausstrahlung verfüge, werde in diesen aufgewühlten Zeiten viel Vertrauen gewinnen. SPD stehe nunmehr für „Soziale Politik für Dich“ – ja, der Wähler werde nun geduzt, wie bei Ikea. Die Plakate seien mit ihrem hohen Rotanteil und den prägnanten Schwarz-weiß-Fotos so gestaltet, dass sie auffallen im Spätsommer, wenn die Bäume grün sind. Anders als die der Grünen. Sollten die Rezepte wirklich so einfach sein?

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Ein SPD-Spitzenmann räumt unumwunden ein, dass er schreien könnte vor Glück über die Fehler der Konkurrenz. Der eigene Kandidat dagegen habe zwar nicht ganz umsonst einst den Spitznamen „Scholzomat“ verpasst bekommen, wegen seiner formelhaft-routinierten Art zu reden – aber diese Maschine funktioniere eben auch verlässlich und fehlerfrei.

Einfach nur Olaf Scholz sein

Auf dem Bebelplatz ist die Kundgebung beendet, der SPD-Kandidat winkt mit bübischem Grinsen in die artig applaudierende Menge. Scheint da so etwas auf wie ein Hauch von Genugtuung? Er kann sich auf das konzentrieren, was er am besten kann: Einfach Olaf Scholz zu sein.