Herr Maier, im Juni und Juli 2024 findet die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland mit Spielen in Ihrer Heimat München statt. Kribbelt es schon?
Ich bin zwar noch am Fußball interessiert, aber Vorfreude verspüre ich überhaupt nicht. Ich bin seit 15 Jahren raus aus dem Geschäft – und es gibt auch noch anderes als Fußball im Leben. Man muss nicht andauernd dem Fußball hinterhersausen, so wie der Uli (Hoeneß, d. Red.).
Verfolgen Sie die Entwicklung in Ihrem einstigen Sport denn gar nicht mehr?
Doch, doch. Den FC Bayern verfolge ich nach wie vor. In der Allianz Arena bin ich aber nur noch sehr selten bei den Spielen. Ich habe zwar zwei Ehrenkarten, aber die hat meine Tochter beschlagnahmt. Sie und meine Nichte sind Bayern-Fans. Die laufen dann mit Trikot und Schal rum.
Vor fast 50 Jahren gewannen Sie die Weltmeisterschaft im eigenen Land. Wie war das damals, im Sommer 1974?
Man kann diese ganze Aufregung heute überhaupt nicht mit 1974 vergleichen. Was da alles gemacht wird, um das Turnier in den Vordergrund zu stellen, das ist doch nicht mehr normal. Das Gute war, dass wir vor 50 Jahren ganz neue Stadien bekommen haben dank der Weltmeisterschaft. Stadien, die dann auch später genutzt wurden. Nicht so, wie in manchen Ländern später, etwa Südafrika oder Katar, wo sie nur noch verrotten oder abgerissen werden. Das ist einfach nicht nachhaltig.

Inzwischen kann man auch den Eindruck bekommen, dass mehr auf Masse statt auf Klasse gesetzt wird. 1974 kämpften 16 Länder um den WM-Titel, bei der nächsten Europameisterschaft sind schon 24 Teams dabei.
Man muss sich nur mal anschauen, was aus dem Europapokal, der Champions League, geworden ist. Das ist nur noch ein Milliardengeschäft, aber das ist in der jetzigen Zeit eben so. Ich habe nichts dagegen, wenn auch kleinere Länder einmal im großen Zirkus mitspielen, die fahren meistens nach zwei, drei Spielen sowieso wieder nach Hause. Außerdem hatten damals Länder wie die Sowjetunion oder Jugoslawien tolle Mannschaften. Diese Länder gibt es nicht mehr, und heute sind aus deren Gebieten dann lauter kleine Teams in der Qualifikation dabei. Die heutigen Spieler kennen das ja gar nicht anders, die sind da reingewachsen.
Und wechseln plötzlich in Länder wir Saudi-Arabien, wo Unsummen bezahlt werden. Wie stehen Sie dazu?
Saudi-Arabien! Die haben ja zu unserer Zeit gar nicht gewusst, dass es sowas wie Fußball gibt. Da unten gab es früher doch nur Kamelrennen. Den Spielern tut das viele Geld natürlich gut, aber wenn der sportliche Wert fehlt, kann man ja auch nur wegen der Kohle dahin gehen. Was nützt mir das, wenn ich saudi-arabischer Meister bin? Was ist denn das für ein Titel? Die Ölstaaten wollen im Fußball eben angreifen. Jetzt soll ja sogar 2034 die WM in Saudi-Arabien ausgetragen werden?
Was hätten Sie und Ihre Kollegen wie Paul Breitner oder Franz Beckenbauer dazu gesagt?
Für ein Freundschaftsspiel wären wir da rübergefahren – wenn sie gut bezahlt hätten.
Ihr früherer Verein fliegt inzwischen auch ins Trainingslager nach Katar. Hat sich auch der FC Bayern verändert?
Ja sicher, alles hat sich verändert. Diese ganze Veränderung geht auch am FC Bayern nicht spurlos vorbei.
Ist der FC Bayern denn noch der familiäre Verein von früher?
Familiär waren wir noch nie. Was heißt schon „Mia san mia“? Die meisten Spieler beim FC Bayern können das doch nicht einmal aussprechen. Aber wenn der Uli sich das einbildet, dass mia mia san, dann san mia halt mia. Der Uli zieht schon noch seine Fäden, er hat das jahrzehntelang erfolgreich aufgebaut. Da kann er sich jetzt nicht so schnell zur Ruhe setzen, auch wenn das gesundheitlich besser wäre für ihn. Jeder, wie er will. Ich will mehr Freizeit und mein Leben genießen. Ulis Leben ist der FC Bayern. Ich war lange genug dabei – 20 Jahre als Spieler und 24 als Torwarttrainer, dazwischen habe ich sechs Jahre nach meinem Unfall ausgesetzt. Also war ich 50 Jahre fest involviert.
Wie sieht Ihr Leben jetzt aus, wenn der Fußball keine Rolle mehr spielt?
Er spielt keine große Rolle mehr. Wenn ich was anderes vorhabe, dann mache ich das lieber als Fußball. Man sieht ja sowieso alles zehnmal bei irgendeinem TV-Sender. Da schaue ich viel lieber Golf, was ich auch gerne spiele. Wir verreisen auch viel. Die Welt ist so schön und so groß, da sind noch viele Stellen offen, die wir anschauen können. Solange es die Gesundheit erlaubt, kann man das machen. In dem Alter weiß man nie, wie lange das noch geht. Das sieht man bei Franz (Beckenbauer, d. Red.), der ist auch arm dran mit seiner Krankheit. Andere sind ja schon gar nicht mehr da.
Wie Sir Bobby Charlton, den englischen Weltmeister von 1966, der jüngst gestorben ist. Wie haben Sie ihn erlebt?
Ich habe noch gegen ihn gespielt, aber kein Tor kassiert. Der war zu weit weg von mir. Den hat der Franz immer gut gedeckt. Wie ich ihn in Erinnerung habe? Bobby hatte ja eine halbe Glatze. Und immer, wenn‘s geregnet hat, dann sind seine langen Haare, die er von rechts nach links frisiert hat, damit es die kahlen Stellen verdeckt, die sind dann immer schulterlang auf seinem Trikot gehangen. (lacht)
Zu Ihrer Zeit wurde mehr gescherzt als heute. Einmal haben Sie im Stadion versucht, eine Ente zu fangen, die sich in den Strafraum verirrt hatte. Eine andere Anekdote gibt es mit Willi Lippens, Spitzname Ente, der ein ähnlicher Spaßmacher war wie Sie.
Wir haben uns immer gut verstanden. Er hatte die Idee, dass ich einmal den Ball zu ihm als Gegenspieler passen sollte und er ihn dann wieder zurückspielen würde. Irgendwie hat es aber immer knapp nicht geklappt. Dann war Rot-Weiss Essen zu Gast bei uns in München. Sie waren in Abstiegsgefahr, und als wir 2:0 führten und ich den Ball hatte, hab zu ihm gesagt: Du, heute können wir es machen. Da hat er geantwortet: Das geht nicht. Ich habe keinen so guten Draht zum Trainer, und wenn ich den Ball nicht reinhaue, dann nimmt der mich wieder vom Platz. Das habe ich fair gefunden, dass er so ehrlich war und das zugegeben hat. Das sind dann halt die kleinen Geschichten, an die man sich 30, 40 Jahre später noch erinnert.
Was halten Sie von den jüngsten Neuerungen wie dem Video-Assistenten?
Ich finde das schon gerechter, auch wenn sich einige aufregen. Der Fußball ist viel ehrlicher geworden. Man kann alles nachvollziehen, wenn der Schiedsrichter halt ein Tor nicht gibt, oder Abseits pfeift. Wenn so viel Geld im Spiel ist, dann muss man das so machen – auch wenn alles manchmal ein bisschen länger dauert.
Wer ist für Sie der beste Torhüter der deutschen Geschichte?
Das kann ich nicht sagen, das überlasse ich anderen. Zu meiner Zeit war es bestimmt ich. (lacht) Ich bin nicht umsonst Torwart des 20. Jahrhunderts.
Wer ist aktuell die Nummer eins? Manuel Neuer oder Marc-Andre ter Stegen?
Manuel soll jetzt erstmal wieder anfangen. Er hat ja nach seiner Verletzung zehn oder elf Monate nicht mehr gespielt. Der kommt schon wieder, man sollte ihn aber erst einmal in Ruhe und Fuß fassen lassen. Ich bin ja in Kontakt mit ihm. Das weiß er selber, so ehrlich ist er auch, dass er nicht gleich wieder den Platz in der Nationalmannschaft fordert. Wenn man die ganzen Kommentare in den Sozialen Medien dazu sieht. Schlimm ist das.
Wie wichtig ist der Torhüter generell heutzutage? Kann man mit einem mittelmäßigen Keeper erfolgreich sein?
Wenn du in der europäischen Spitze mitspielen oder Titel gewinnen willst, dann brauchst du einen guten Torwart. Das ist das A und O. Wenn es Spitz auf Knopf steht, entscheidet der Torhüter zu 80 Prozent, wie es ausgeht.
Inwiefern hat sich das Torwartspiel im Vergleich zu Ihrer Zeit verändert?
Die Torhüter müssen heute auch schon noch die Bälle halten, aber insgesamt ist es schon anderes geworden. Wie ich ein Gegentor verhindere, das ändert sich von Zeit zu Zeit. Ich finde, was jetzt die Torhüter machen, mit dieser Hampelmann-Bewegung, das ist ja unmöglich. Was die für Beinschüsse bekommen… Wie ein Handball-Torwart kommen die mir teilweise vor. Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Früher hast du gewartet, was der Stürmer macht, und dann hast du reagiert. Jetzt machen sie einen Grätschsprung und wedeln mit den Armen, und manchmal haben sie das Glück, dass sie angeschossen werden. Aber ich kann das doch nicht machen, wenn ein Stürmer drei Meter vor mir steht. Da warte ich, was der macht, reagiere – und halte den Ball.
In gewissen Dingen waren Sie Ihrer Zeit voraus. Sie haben als Torwarttrainer die deutsche Nationalmannschaft 1990 bei der WM in Italien mit der Kamera begleitet und den Fans einen Blick in die Kabine und hinter die Kulissen ermöglicht, wie es heute die Streamingdienste mit ihren Sport-Dokumentationen im Internet machen.
Dann hatten wir auch noch das Glück, Weltmeister zu werden. Das kannst du dir gar nicht ausdenken. Mittlerweile kann man ja mit dem Handy alles auf-nehmen, aber ich hatte immer meine Kamera dabei – sogar als Spieler habe ich gefilmt. 1967 beim EM-Qualifikationsspiel gegen Albanien in Dortmund vom Dach des Stadions Rote Erde. Ich war Ersatz-Torwart und hatte meine Super-8 dabei und bin dann während des Spiels in voller Montur mit Fußballschuhen hoch zum Fernsehteam und habe gefilmt. Wenn dem Hans Tilkowski was passiert wäre, dann hätte ich schnell runtersausen und mich ins Tor stellen müssen. (lacht)
Von solchen Episoden und von Ihrem Leben werden Sie am 27. und 28. November auch in Konstanz erzählen. Wie kam es zu diesen Veranstaltungen?
Ganz einfach: Der Organisator ist an mich herangetreten und ich habe zugesagt. Zwei Tage später haben sie sich wieder gemeldet und gefragt, ob wir noch einen Termin machen könnten, da der erste innerhalb von zwei Stunden ausverkauft war. Dann hab ich gesagt: Machen wir halt noch einen Tag, wenn wir schon unten sind.
Was verbindet Sie mit Konstanz und dem Bodensee?
An Konstanz habe ich schlechte Erinnerungen (lacht). Ich war mal für einen Maibock-Anstich in einem Hotel zu Gast, das muss 1990 vor der WM gewesen sein. Das war eine Riesenfeier und ich durfte das erste Fass anstechen und habe ein bisschen was getrunken. Obwohl sie ein Zimmer für mich reserviert hatten, bin ich heimgefahren nach München. Als die Fähre in Meersburg angekommen war, hat mir einer auf die Schulter geklopft und gesagt: Herr Maier, fahren Sie zu, wir sind jetzt da. Da war ich im Auto glatt eingeschlafen (lacht). Anschließend hatte ich einen schweren Unfall und lag einen Tag im Krankenhaus, wo sie mir das Ohr zusammenflicken mussten. Das sind meine Erinnerungen an Konstanz.
Da trifft es sich gut, dass Sie dieses Mal zwei Tage bleiben und bestimmt hier übernachten.
Auf alle Fälle. Dieses Mal ist auch meine Frau dabei, da wird es keine solche Sause werden. Da muss ich ein bissel vernünftig bleiben, sonst gibt‘s Ärger.