Santa Clara – Nur eine gute halbe Stunde und ein paar richtig große Zahlen braucht Mario Herger, um in smartem Wienerisch eine 140-jährige Erfolgsgeschichte zu zertrümmern und dem Autoland Baden-Württemberg das Ende des Wohlstands zu prophezeien. „Ich konnte schlecht schlafen nach dem Vortrag“, bekennt Winfried Kretschmann am Tag danach. Herger, Technologieforscher, Innovationsberater und Autor, lebt seit 17 Jahren im Silicon Valley. Vor dem baden-württembergischen Regierungschef und der hochkarätigen Wirtschafts- und Wissenschaftsdelegation, die sich Kretschmanns politischer Delegationsreise nach Kalifornien angeschlossen hat, skizziert Herger in Santa Clara, dem Zentrum der milliardenschweren Technologie- und IT-Region, den aktuellen Stand in Sachen autonomes Fahren. Seine Thesen senden Schockwellen in den Raum.

„Da ist etwas im Gang, das sich nicht mehr aufhalten lässt“

Herger vergleicht die klassischen Autobauer mit den Kutschenmachern, Sattlern und Zaumzeugmachern Anfang des 20. Jahrhunderts, deren Berufe binnen weniger Jahre überflüssig wurden, als das Automobil die Pferdekutsche ersetzte. „57 Unternehmen haben derzeit in Kalifornien die Lizenz, autonomes Fahren zu testen, 1000 solcher Fahrzeuge fahren herum. 1700 Unternehmen forschen zum autonomen Fahren, seit 2013 wurden mehrere Milliarden Dollar investiert“, rattert Herger herunter, „und das Google-Unternehmen Waymo geht in die Massenproduktion und steht unmittelbar davor, 82 000 autonom fahrende Autos in den Markt und auf die Straße zu schicken, 100 jeden Tag.“ Herger berichtet von den 16 000 Elektrobussen, die im chinesischen Shenzhen bereits auf den Straßen rollen, während in Deutschland noch darüber diskutiert wird, wie schwierig eine Ladeinfrastruktur wäre. Seine Botschaft ist klar: „Da ist etwas im Gang, das sich nicht mehr aufhalten lässt“ – und die Deutschen, die Baden-Württemberger, sind nicht dabei. 

Dunkle Zukunftsvision: Der Vordenker Mario Herger beim Vortrag seiner Gedanken zum technologischen Wandel.
Dunkle Zukunftsvision: Der Vordenker Mario Herger beim Vortrag seiner Gedanken zum technologischen Wandel. | Bild: Jana Höffner / Staatsministerium Baden-Württemberg

„Das ist Populismus“, sagt dagegen Delegationsmitglied Johann Marius Zöllner, Direktor am FZI, dem Forschungszentrum Informatik (FZI) in Karlsruhe, der mit Anwendungsforschung zu autonomem Fahren und Künstlicher Intelligenz ganz vorne mit dabei ist. „Was er eben nicht sagt, ist, dass die Waymo-Autos bei Regen eben nicht mehr funktionieren, wenn die Sensoren verschmutzt sind“, sagt Zöllner. „Das geht vielleicht in Kalifornien, aber nicht bei uns.“

Zweieinhalb Tage Silicon Valley, das ist nicht nur für den baden-württembergischen Regierungschef ein Wechselbad der Gefühle, zwischen Begeisterung über den „Alles ist möglich“-Spirit, der in der pulsierenden Gründer- und Innovationsregion herrscht, und der Ernüchterung über die Fehlervermeidungskultur und die geradezu lächerlichen Investitionssummen zu Hause. „Bei uns wird nie nach Chancen, sondern immer zuerst nach Risiken gefragt wird“, sagt Kretschmann. Besuche in den Zentralen von Technologie-Giganten wie dem Grafiktechnologiehersteller Nvidia oder dem milliardenschweren Start-up-Investor Plug and Play, der auch in Stuttgart die Start-up-Plattform „Autobahn“ betreibt, stehen auf dem Programm. Politik, Wirtschaft und Wissenschaft aus Baden-Württemberg holen sich zudem parallel Input von der vordersten Front der IT-, und High-Tech-Entwicklung und der Künstlichen Intelligenz (KI), für die sich durch die Potenzierung von Rechnerkapazitäten in den vergangenen Jahren ungeheure Möglichkeiten ergeben.

„Wir brauchen gar nicht erst versuchen, in irgendeiner Weise hiermit zu konkurrieren“, bilanziert Kretschmann am Ende der Silicon-Valley-Tage. „Für mich ist die Frage, was wir da mitnehmen, damit wir uns nicht erschießen, wenn wir nach Hause kommen, und wo unsere Chance ist. Und dann muss man fragen, was mit unseren Dax-Unternehmen los ist, dass sie nicht einmal eine Milliarde Euro an Venture-Kapital zur Verfügung stellen“, sagt Kretschmann. Doch nicht bei allem ist der Standort Deutschland hinterher, so Kretschmanns Fazit. Abgesehen von den entscheidenden Zukunftsfragen – Wie schnell geht der Wandel? Wer kriegt die besten Köpfe? – blieben ethische unbeantwortet im Silicon Valley, wo es nur um den Marktwert von Ideen und Firmen geht. „Wo bleibt der Mensch?“, fragt Kretschmann.