Viele Unternehmen klagen über einen Verfall des deutschen Wirtschaftsstandortes. Herr Sutter, Sie führen selbst seit 30 Jahren ein Medizintechnik-Unternehmen, stimmen Sie in das Wehklagen ein?

Ich wehre mich zunächst dagegen. Der Kanzler soll, so wird es kolportiert, gesagt haben, dass die Klage der Gruß des Kaufmanns sei. Aber zum Klagen bin ich nicht da. Gleichzeitig ist es so, dass die harten Fakten eine deutliche Sprache sprechen. Wir wissen um die Wachstumsschwäche Deutschlands und die vielen Verkrustungen, die durch Reformen aufgelöst gehören.

Wir wissen, dass wir innerhalb der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Anm. d. Red.) eine hohe Steuerquote haben. Auch haben wir im OECD-Vergleich eine sehr geringe Jahresarbeitszeit. Wir haben eine hohe Bürokratiebelastung und wir hinken in vielen Dingen hinterher: Sei es bei der Stromübertragung der erneuerbaren Energien, in der Digitalinfrastruktur oder bei der physischen Infrastruktur, wie Straßen und Brücken.

Es gibt viele Handlungsfelder. Ein Land und ein Wirtschaftsstandort verkraftet aber nur eine gewisse Anzahl an suboptimalen Zuständen. Heute läuft es aber in einer ganzen Reihe von Bereichen nicht gut. Das belastet die Wirtschaft.

Seit Herbst 2023 sind Sie auch Präsident des Wirtschaftsverbands industrieller Unternehmen Baden. Der Verband und seine Mitglieder starten in diesen Tagen eine Kampagne, die die Bedeutung des Grundgesetzes, das 75 Jahre alt ist, hervorhebt. Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Festigkeit der deutschen Demokratie?

Die Kampagne kommt aus dem Verständnis heraus, dass Unternehmer und Unternehmerinnen auch Staatsbürger sind und für die liberale Demokratie eintreten wollen. Jetzt kann man fragen, ob dies notwendig ist. Wir haben eine sehr lebendige Demokratie und ein hervorragendes Grundgesetz. Aber beides muss immer wieder betont und verteidigt werden gegen Tendenzen, sie zu schwächen.

Mit der Kampagne „Einigkeit, Recht, Freiheit“ wirbt der Wirtschaftsverband industrieller Unternehmen Baden (WVIB) für Demokratie und ...
Mit der Kampagne „Einigkeit, Recht, Freiheit“ wirbt der Wirtschaftsverband industrieller Unternehmen Baden (WVIB) für Demokratie und eine offene Gesellschaft. Die Initiative will mit vielen Gesichtern und Stimmen vor einem Verlust der politischen Mitte warnen und für Weltoffenheit, Toleranz und die universellen Werte des Grundgesetzes einstehen. | Bild: WVIB

Und welche vom Grundgesetz gesicherten Werte sehen Sie gefährdet – mit Folgen für die Wirtschaft?

Ich glaube nicht, dass irgendjemand den Plan hat, das Grundgesetz abzuschaffen oder dramatisch zu modifizieren. Das sehe ich nicht als unmittelbare Gefahr an. Wir sehen aber eine Zunahme von populistischen Strömungen. Die Themen, die von populistisch orientierten Parteien und sonstigen Interessengruppen aufgegriffen werden, sind ja durchaus reale Themen.

Egal ob es von links oder rechts ist, die Themen, die da genannt werden, treiben die Menschen in Deutschland und Europa um. Probleme können aber nur durch konstruktive Lösungen behoben werden. Das ist die Schwäche der Populisten.

Wir glauben, dass es viele Menschen in der Mitte der Gesellschaft gibt, die sich nicht laut äußern, aber ein feines Gespür dafür haben, was funktioniert und was nicht funktioniert. Menschen, die eine gesunde Antenne dafür haben, wie diese liberale Demokratie auszusehen hat und gelebt werden kann. Da wollen wir eine Stimme in dem Chor sein, der das fördert und stärkt.

Familienunternehmer und Schraubenkönig Reinhold Würth hat im März vor dem Aufstieg der AfD gewarnt und dafür viel Anerkennung erfahren. Müssen sich andere Unternehmen hier ebenso stärker positionieren?

Sich zu positionieren, bleibt jedem selbst überlassen. Wir sprechen für die WVIB Schwarzwald AG und nicht für andere Verbände und Unternehmen. Dem WVIB ist es wichtig, dass wir nicht für oder gegen eine Partei oder eine einzelne Position stehen, sondern dass wir uns hinter die Werte des Grundgesetzes der liberalen Demokratie stellen. Ich halte es nicht unbedingt für hilfreich, wenn wir auf Einzelne zeigen, egal ob sie populistisch von rechts oder links daherkommen, sondern dass wir uns für die Demokratie starkmachen.

Es gibt Unternehmen, die für sich Leitlinien zu Grundgesetz und Menschenrechten formulieren und ihre Mitarbeiter darauf verpflichten. Was halten Sie von solchen Initiativen?

In einem Unternehmen, das über die ganze Welt verteilt ist, mag das einen gewissen Sinn machen. In Deutschland – ganz ehrlich – würde ich offen erwarten, dass wir in der Breite diese Werte und Überzeugungen teilen. Ich halte es nicht für falsch oder schlecht, aber ich würde es mir wünschen, dass es in den Köpfen und Herzen der Menschen verankert ist und nicht nur auf dem Papier.

Mit Blick auf die Europawahl halten Sie es aber für erforderlich, sich klar abzugrenzen von nationalistischen Tendenzen und Kräften, die etwa auch den Wirtschaftsstandort schädigen können.

Die EU ist als Schicksalsgemeinschaft konzipiert. Viele junge Leute heute – das ist kein Vorwurf – haben nicht mehr die Elterngeneration, die den Krieg und die Nachkriegszeit, in der sich Europa neu sortiert hat, erlebt haben. Meine Generation hat das von den Eltern und Großeltern erzählt bekommen. Und die EU ist ja auch aus dem Gedanken entstanden, dass Europa als zusammenwachsender und geeinter Kontinent nicht mehr in den Krieg fallen mag. Und das ist nicht nur ein ökonomisches, sondern ein ganz großes politisches Projekt.

In diesem Spannungsfeld stehen auch nationale Interessen und Identitäten. Mir ist es sehr wichtig, dass wir eine Abgrenzung machen zwischen nationaler Identität und Nationalismus. Ich halte nationale Identität für eine wertvolle Bereicherung des europäischen Hauses, aber Nationalismus als schädlich und giftig für das europäische Integrationsprojekt.

Sie haben eingangs Kanzler Scholz erwähnt. Was halten Sie von seinem Vorwurf, dass die Wirtschaft nur nörgelt?

Unqualifiziert.

Sie selbst fordern aber ein besseres staatliches Handeln und Eingreifen. Was halten Sie konkret für erforderlich?

Handeln ja, eingreifen – das klingt so wie in die Speichen greifen. Staatliches Handeln muss den Rahmen schaffen, es muss Freiheit und Sicherheit garantieren; es muss Bildung organisieren und Infrastruktur bereitstellen. Ich denke, damit ist ein Staat so richtig mit beiden Händen beschäftigt. Und da kommt noch der wichtige Kampf gegen den Klimawandel hinzu, den wir in Deutschland nicht alleine gewinnen können – wo wir aber auch nicht nichts tun können. Wenn sich der Staat radikal auf diese Themen fokussieren würde, dann wäre uns viel geholfen.

Erhalten Sie als Unternehmer kritische Fragen von ausländischen Kunden und Investoren zum deutschen Standort?

Wenig. Was aber nicht mehr so ausgeprägt ist, ist der begehrliche Blick darauf, was wir in Deutschland haben. Das hat sich verändert. Neid muss man sich verdienen und die Abwesenheit davon sagt auch etwas aus.