Den Beweis, dass sich das Bahnmanagement und die Granden der Lokführergewerkschaft GDL im Punkto Rücksichtslosigkeit gegenüber Kunden und Fahrgästen um keinen Deut unterscheiden, lieferte der Bahn-Konzern gestern. Kurz nachdem der jüngste Streik im Güterverkehr abends um fünf losgegangen war, tat die Bahn, was sie eigentlich schon vor Tagen hätte tun müssen: Sie legte ihrer Kontrahentin GDL ein neues Angebot vor.
Zu dem Zeitpunkt war die Streikkolonne schon nicht mehr aufzuhalten. Lokführer waren nicht zum Dienst erschienen. Gütertransporte standen im ganzen Land still. Tausende Fahrgäste hatten Reisen bis weit in die kommende Woche storniert, umgebucht oder ihre Pläne gleich ganz in den Wind geschrieben.
Organisierte Verantwortungslosigkeit auf beiden Seiten
Vor wenigen Wochen verhielt sich die Lokführergewerkschaft GDL ganz ähnlich. Anfang August brach sie nach dem Scheitern erster Verhandlungen mit dem Konzern einen bundesweiten Ausstand vom Zaun. Das Pikante dabei: Die Vorwarnzeit betrug gerade einmal acht Stunden. Auch damals waren die Folgen enorm. Im Güterverkehr ging nichts mehr und so mancher Bahnkunde fand sich am nächsten Morgen auf dem Bahnhof ein, ohne überhaupt zu wissen, dass gestreikt wurde.

Die beiden Episoden sind aufschlussreich, denn sie zeigen wie weit der Fahrgast aus dem Fokus der Streithansel im Bahn- und GDL-Vorstand gerückt ist. Und das ist mit Sicherheit fataler als das wochenlange und erfolglose Gezerre um Lohnaufschläge hier und Tariflaufzeiten dort.
Kluge Tarifkämpfe werden nämlich so geführt, dass sie beim Gegenüber maximale Durchschlagskraft entfalten. Die Kunst dabei ist es aber, dass der Bürger wenigstens einigermaßen ungeschoren davon kommt. Beispielsweise indem man ihm Zeit einräumt, sich auf drohende Zugausfälle vorzubereiten. Oder indem man Unternehmen Spielräume schafft, Logistikketten umzuorganisieren.
Nichts rechtfertigt mehr diesen Streik
Diese Erkenntnis scheint sich bei den Tarifparteien der Bahn aber nicht durchgesetzt zu haben. In fahrlässiger Art und Weise spielen sie seit Wochen mit dem Vertrauen von Fahrgästen und Unternehmenskunden Vabanque. Für Deutschlands größten Staatskonzern, der als solcher im Besitz aller Bürger ist, ist dieses Verhalten besonders verstörend.

Wer nach den Gründen des Debakels sucht, muss ziemlich tief graben. Das Thema Gehalt – oft der wichtigste Konfliktpunkt in Arbeitskämpfen – hat auf den bislang katastrophalen Verlauf dieser Tarifrunde jedenfalls keinen entscheidenden Einfluss gehabt. Die Forderung der GDL von 3,2 Prozent Plus ist nämlich so moderat, dass die Mitglieder ihrem schnoddrigen Gewerkschaftschef Claus Weselsky in normalen Zeiten daraus wohl einen Strick gedreht hätten. Angesichts der aktuellen Preisentwicklung ergeben sich für die Lokführer am Ende sogar Reallohnverluste. Der Konzern hat die Schippe mehr beim Lohn mittlerweile denn auch akzeptiert. Nur die Laufzeit des Gehaltstarifvertrags verhindert im Moment eine Einigung. Dabei geht es um wenige Monate hin oder her.
Die Brisanz der Auseinandersetzung kommt woanders her. Weil aufgrund des Tarifeinheitsgesetzes bei der Bahn künftig die Regel „ein Betrieb – ein Tarifvertrag“ gilt, befindet sich die GDL mit ihrem streitbaren Chef Weselsky in einem Existenzkampf. Die Taktik, der sehr viel größeren Konkurrenzgewerkschaft EVG Mitglieder abzujagen, ist quasi zu ihrer Lebensversicherung geworden. Rabatz machen und die Muskeln spielen lassen kommt da gut an. Bahn-Chef Richard Lutz hat das Spielchen mitgespielt und ist auf die Provokationen seines Gegenübers eingestiegen. So hat er den Tarifkampf mutwillig in die Länge gezogen und den Konflikt unaufhaltsam eskaliert.
Damit muss jetzt Schluss sein. Die aktuelle Lage rechtfertigt keinen Arbeitskampf bei Deutschlands wichtigstem Schienenkonzern mehr. Zumal, wenn er auf dem Rücken der halben Republik ausgetragen wird.