Sehr geehrter Herr Weselsky,

wenn ich Ihnen das mal sagen darf: Ich finde, Sie haben ein ganz besonderes Talent. Sie schaffen es, die halbe Republik zur Verzweiflung zu treiben – und gleichzeitig nicht verhasst zu sein. Die Streiks Ihrer Lokführer-Gewerkschaft sind ja eigentlich ein Ärgernis für alle Bahnkunden.

Pendler stehen an leeren Gleisen, Urlauber können ihre Reise abblasen, ganze Strecken werden nicht mehr bedient, und auf den Straßen steht folglich alles im Stau. Trotzdem belegen Umfragen, dass die Mehrheit der Bürger Verständnis hat. Wie ist das möglich?

Claus Weselsky, 62, ist seit 2008 Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer. Lokführer ist auch der Beruf, den der ...
Claus Weselsky, 62, ist seit 2008 Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer. Lokführer ist auch der Beruf, den der gebürtige Dresdner zuvor ausgeübt hat. Das CDU-Mitglied ist geschieden und Vater eines erwachsenen Sohnes. | Bild: Sebastian Kahnert

Klare Ansagen auf Sächsisch

Ich glaube sogar, es ist mehr als Verständnis – es ist auch ein bisschen Bewunderung! Bewunderung für den letzten aufrechten Helden der Arbeit. Einen, der den Managern der Bahn zeigt, was eine Harke ist. Mit Ihrem charmanten sächsischen Akzent erklären Sie allabendlich der Republik vor dem Fernseher, wie die Spielregeln im Arbeitskampf sind, die die Bahn-Chefs anscheinend nicht drauf haben.

So etwas wie die gute alte Zeit

In dieser Welt der Superreichen und der prekären Beschäftigungsverhältnisse, in der die soziale Kluft größer wird, und in der immer weniger Berufstätige eine Gewerkschaft im Rücken haben, verkörpern Sie mit Ihrer GDL so etwas wie die gute alte Zeit. Die Macht des kleinen Mannes (und der kleinen Frau) – das gibt es noch! Eine wohltuende Erkenntnis.

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Nun sind Sie als Vertreter der Lokführer in der komfortablen Lage, dass bei der Bahn ohne die von Ihnen vertretene Berufsgruppe nun mal wirklich nichts geht. Mit solcher Durchschlagskraft können andere Berufssparten nicht aufwarten – wobei, wenn ich so recht darüber nachdenke: Wenn sie flächendeckend ernst machen würden, könnten womöglich auch Pflegekräfte, Paketboten oder Lkw-Fahrer richtig was rausreißen. Vielleicht fehlt es einfach an einer Führungsfigur wie Ihnen.

Eigentlich litten ja vor allem die Schaffner

Eines aber geht mir dann doch gegen den Strich: Dass ausgerechnet die Lokführer eine Corona-Prämie einstreichen sollen, die in ihrer Lok doch am besten geschützt waren vor allen Viren, ist schon ein starkes Stück. Die eigentlichen Probleme – zum Beispiel mit renitenten Fahrgästen, die sich weigerten die Maske aufzusetzen – hatten ja die Schaffner. Für die könnten Sie sich nicht mal ins Zeug legen, oder?

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Zum Abschluss noch ein gut gemeinter Rat: Überspannen Sie den Bogen nicht. Für die Bahn sieht es nach Corona alles andere als rosig aus. Für die Bahnkunden wird durch Ihren Streik ja leider auch nichts besser, was Taktung und Anschlussverbindungen angeht.

Da liegt dann letztlich auch Ihr Problem: Eine Bahn, die nicht attraktiv ist für die Kunden, ist auch kein guter Sparringspartner für Arbeitskämpfe mehr. Insofern hoffe ich auch in Ihrem Sinne, dass sie bald wieder ungetrübt von Streiks fährt, die Bahn!