Auf der oberen Ebene der Baugrube des Mammutprojekts Stuttgart 21 – dem Tiefbahnhof, der die Landeshauptstadt besser vernetzen soll – sieht es aus wie auf einem gigantischen Schrottplatz. Soweit das Auge reicht, liegen meterlange Bündel verbogener Stahlstreben herum.

Was aussieht wie ein riesiger Schrottplatz, sind Hunderte 3-D-gefertigter Stahlstreben.
Was aussieht wie ein riesiger Schrottplatz, sind Hunderte 3-D-gefertigter Stahlstreben. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

An jeder Stahlstrebe ist ein Zettel befestigt mit einer Reihe von QR- und Zahlencodes, Plan-, Bauteil- und Positionsnummern. „Brillenkelch“ steht da winzig unter einer Zahlenreihe.

Stahlstreben für eine Kelchstütze.
Stahlstreben für eine Kelchstütze. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

22.000 Stahlstreben

22.000 solcher mittels 3-D-Technik gefertigten Stahlstreben braucht es in 11.000 verschiedenen Biegungen und Längen, um eine einzige der 28 Kelchstützen zu bauen, die später einmal das Dach des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs tragen sollen. Bis zu 350 Tonnen Stahl und 685 Kubikmeter Beton werden verbaut – pro Kelchstütze.

28 dieser Kelchstützen sollen das ebenerdige Dach des künftigen Tiefbahnhofs tragen.
28 dieser Kelchstützen sollen das ebenerdige Dach des künftigen Tiefbahnhofs tragen. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

16 davon sind im August 2021 bereits fertig betoniert, Ende 2022 sollen alle stehen. Kühl und glatt, mit dem merkwürdigen hellen Schimmer des eigens für Stuttgart-21 entwickelten Betons, ragen die Kelche empor, aus deren am Boden meterdicken Säulen ein Betondach mit dem Durchmesser von jeweils 32 Metern erwächst. Sie lassen die Gestalt und die Dimension des neuen Bahnhofsgebäudes erahnen. Der 17. Kelch wächst gerade empor. Auf der Ebene der oberen Stahlgitterkonstruktion wimmeln Bauarbeiter herum.

Auf dem Stahlgerüst einer Kelchstütze.
Auf dem Stahlgerüst einer Kelchstütze. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Unten fahren Bagger durch den Staub, ober drehen sich Kräne und senken ihre Last in die Grube. Es kracht, klopft, kreischt, hämmert, die Sprachfetzen und Kommandos sind international. Großbaustellenatmosphäre, harte Arbeit. Aber das Hantieren mit den Bewehrungsstählen, 40-Millimeter-Eisen, der Meter zu zehn Kilo, ist filigrane Millimeterarbeit.

Bauplan in einem Windschutz.
Bauplan in einem Windschutz. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Modernste Bautechnik

Die finale Position der einzelnen Stahlstreben, um deren abfallende Dachblume der Beton gegossen wird, wird von einem Vermessungsingenieur per 3-D-Messung händisch überprüft und digital mit den Konstruktionsplänen abgeglichen. Bevor hier nicht alles auf den Millimeter sitzt, wird nichts verschalt, nichts betoniert. Willkommen im Ingenieursparadies des 21. Jahrhunderts, willkommen in der Baugrube des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs, Herz des Milliardenprojekts Stuttgart 21.

Die Dimensionen des neuen Tiefbahnhof nehmen Gestalt an. Was noch fehlt, ist das Dach.
Die Dimensionen des neuen Tiefbahnhof nehmen Gestalt an. Was noch fehlt, ist das Dach. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Wer einen Crash-Kurs absolvieren möchte über Stahlbetonbau und Statikherausforderungen, die man vor 30 Jahren noch nicht hätte lösen können, muss mit Michael Pradel über die Baustelle gehen. Wenn Stuttgart-21 das Paradies auf Erden für Bauingenieure ist, ist Pradel so etwas wie der Torwächter und Gott in einer Person.

Chef der Großbaustelle

Der 47-jährige Bauingenieur war quasi von Anfang an, seit 2015, Chef der Bahnhofsbaustelle und scheint nicht nur jeden der derzeit rund 500 Bauarbeiter und jede der Handvoll koreanischen Bauarbeiterinnen zu kennen – sie sind tatsächlich für die Aufhübschung des fertigen Betons zuständig -, sondern auch jede Stahlstrebe und deren Platz.

Michael Pradel ist seit Mai 2021 der Technische Leiter des Gesamtprojekts.
Michael Pradel ist seit Mai 2021 der Technische Leiter des Gesamtprojekts. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Seit Mai 2021 ist Pradel technischer Geschäftsführer des gesamten „Bahnprojekts Stuttgart – Ulm“, wie Stuttgart 21 offiziell im Bahnjargon heißt. Bei der „Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart“ geht es ja nicht nur um den Stuttgarter Bahnhof, sondern im Gesamtprojekt um den Stuttgarter Flughafen und auf der Schwäbischen Alb nach Ulm um vier neue Bahnhöfe insgesamt, um 57 Kilometer neue Schienenwege, um 59 Kilometer Tunnelröhren, um 16 neue Tunnel und Durchlässe und um 44 Brücken.

Technischer Größenwahn?

Aber die Stuttgarter Baugrube ist schon das I-Tüpfelchen. Nicht nur für die erbitterten Gegner. Einen Fernverkehrsbahnhof unter Vollbetrieb im dicht bebauten Herzen einer Großstadt in Kessellage, umzingelt von mehrspurigen Bundesstraßen und untertunnelt von zahllosen S- und Stadt-Bahntunneln nicht nur zu versenken, sondern samt aller Gleiszufahrten um 90 Grad zu drehen, auf die Idee muss mal erst einmal kommen. Sie umzusetzen, grenzt an technischen Größenwahn.

Baugrube im Herzen der Stadt – links wächst eine Kelchstütze, direkt daneben die Zentrale der Landesbank Baden-Württemberg.
Baugrube im Herzen der Stadt – links wächst eine Kelchstütze, direkt daneben die Zentrale der Landesbank Baden-Württemberg. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Pradel ist das sympathische Gesicht dieses gigantischen Unterfangens. Die Bahn tut gut daran, ihn an vorderste Front zu stellen. Er kann reden, gut erklären, hat eine unendliche Fülle von Daten und Zahlen parat und ist restlos begeistert von den unerschöpflichen Möglichkeiten und Herausforderungen. Politische Diskussionen und „was-wäre-wenn“-Debatten sind nicht seine Welt.

Geschäftsführer Pradel sieht Herausforderungen – und sucht Lösungen. Ganz gleich, ob es um die Umsiedlung von Eidechsen geht oder darum, ein 15000 Tonnen schweres denkmalgeschütztes Gebäude wie die alte Stuttgarter Bahndirektion auf 36 hydraulisch gesteuerte Stelzen zu stellen, um darunter die neuen Tunnelröhren zu bauen. Mittlerweile hat die Bahndirektion hat wieder festen Boden unter dem Keller. Von den 51 Kilometern neuer Tunnelröhren im Stuttgarter Talkessel sind 50 Kilometer fertig.

50 von insgesamt 51 neuen Tunnelkilometern im Stuttgarter Talkessel sind bereits fertig gebaut.
50 von insgesamt 51 neuen Tunnelkilometern im Stuttgarter Talkessel sind bereits fertig gebaut. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Vier neue Tunnel

Wer in diesen Tagen durch die Bahnhofs-Baugrube geht, kann am Rand der künftigen Bahnsteige entlang in die vier Tunnelröhren hineingehen, durch die die Züge später ein- und wieder ausfahren sollen. Man kann jetzt schon hinabklettern in die fertigen Verbindungsgänge zwischen S-Bahn und künftigen Bahnsteigen, einen Blick werfen durch eine Tür nach nebenan direkt auf die unterirdische Stadtbahnstation des Hauptbahnhofs, die gerade einen neuen Boden bekommt und saniert wird.

Man kann den Kopf in den Nacken legen unten zwischen den fertigen Kelchstützen und durch die Aussparung für eines der riesigen Lichtaugen in der Decke direkt in den blauen Himmel schauen. Und wer ganz oben vom Turm des alten Bahnhofsgebäudes hinunter auf die Baustelle schaut, auf das zum Teil fertige Dach, die Kelchstützen, die Kontur des neuen gedrehten Bahnhofs, für den ist die Vorstellung, dieses Projekt noch stoppen oder umwidmen zu können, geradezu absurd. Aber die Vorstellung lebt weiter in der Stadt bei den Gegnern.

Pradel Video: Bäuerlein, Ulrike

Ingenieure 22

Pradel steht mit den „Ingenieuren 22“ im Stuttgart-21-Widerstand, einer Gruppe, die jeden Fortschritt des Projekts noch immer mit einer alternativen Planung begleitet, im Austausch. Man kennt sich und spricht die gleiche Sprache – zumindest als Ingenieure. Pradel kennt den Stand der alternativen Planung.

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Ein unterirdisches Logistik-Güterverteil-Zentrum soll in dem bereits fertig gebauten Röhren entstehen, ein Fahrradbahnhof. Und noch immer, rechnen die Gegner, ließen sich Milliarden einsparen. Von den Sicherheitsbedenken – Brandschutz, Mineral- und Grundwassergefährdung – und den Zweifeln an der Kapazität gar nicht zu sprechen. Was Pradel davon hält? „Die Neubaustrecke vom Flughafen nach Ulm geht im Dezember 22 in Betrieb, der Bahnhof im Dezember 25“, sagt er.

Über diesen langen Steg über die Baustelle laufen Bahnreisende derzeit vom alten Bahnhofsgebäuden zu den weit nach außen verlegten ...
Über diesen langen Steg über die Baustelle laufen Bahnreisende derzeit vom alten Bahnhofsgebäuden zu den weit nach außen verlegten Gleisen. Unter dem Steg wächst, um 90 Grad gedreht, der neue Durchgangsbahnhof aus der Baugrube. | Bild: Bäuerlein, Ulrike

Dass in seiner Baugrube nichts an Sicherheitsfragen unbedacht blieb, davon ist er überzeugt. Während die Gegner stets fürchteten, bei Starkregen würde sich die Baugrube in ein riesiges Wasserbecken verwandeln, gab es Ende Juni den Beweis des Gegenteils.

Keine größeren Schäden trotz Unwetter

Während die Stadt rundum im Chaos versank, Unwetter und Starkregen nebenan Bundestraßen-Unterführungen überfluteten, Straßen unter Wasser setzten, der Sturm meterdicke alte Baumriesen im Schlossgarten fällte und einen Teil des Operndachs abdeckte, gab es auf der Baustelle keine größeren Schäden zu beklagen.

„Es stand kein Wasser auf dem Boden“, sagt Pradel und schaut stolz auf eines der betonierten Schmutzwasser-Abflussbecken in der Baugrube, in dem eine Pumpe unten im Wasser arbeitet. „Eine Bibo“, sagt Pradel. Die kennt er auch persönlich.