Am 17. Dezember vergangenen Jahres, ein Dienstag, klingelte bei Sara Wild frühmorgens das Telefon. Ihr Vater war dran und fragte, ob sie schon die Zeitung aufgeschlagen hätte. Wenn nicht, solle sie das schleunigst tun. Als die Inhaberin der Radolfzeller Segel- und Motorbootschule Wilde Flotte die entsprechende Stelle im SÜDKURIER nachlas, sei sie „vom Glauben abgefallen“, sagt sie heute.

Die Hiobsbotschaft kam kurz vor Weihnachten

Kurz zuvor hatte sich der Gemeinderat der Bodenseegemeinde Radolfzell in nichtöffentlicher Sitzung auf ein umfassendes Konzept zur Neunutzung eines Teils des städtischen Bodenseeufers verständigt.

Ein Punkt in dem Paket: Ein Gewerbeverbot im künftigen Landschaftsschutzgebiet Streuhau, das unter anderem auch die Kündigung von Bootsliegeplätzen bis Ende 2025 beinhaltete.

Sara Wild: Sie hat neben einer Sportbootschule in Konstanz-Wallhausen auch einen Standort in Radolfzell. Dort soll die Wilde Flotte nun ...
Sara Wild: Sie hat neben einer Sportbootschule in Konstanz-Wallhausen auch einen Standort in Radolfzell. Dort soll die Wilde Flotte nun dichtmachen. | Bild: Wilde Flotte

Wild, deren Segel- und Motorbootschule im betreffenden Gebiet liegt, wusste von nichts und war entsetzt. „Wir haben aus der Zeitung erfahren, dass uns die wirtschaftliche Grundlage für den Standort meines Unternehmens in Radolfzell entzogen wurde“, sagt sie.

Eine weitere Woche, bis zum Weihnachtstag, habe es gedauert, bis eine persönliche E-Mail des Radolfzeller Oberbürgermeisters Simon Gröger in ihr Postfach eingetrudelt sei. In ihr warb der OB für Verständnis für die Entscheidung, äußerte sein Bedauern und wünschte „ein schönes Weihnachtsfest und besinnliche Festtage“. „Ein Weihnachtsgeschenk sieht anders aus“, sagt Wild.

Zwei Dutzend Boote, 12 Festangestellte

Die 44-jährige Mutter von drei Kindern ist im Wassersport keine Unbekannte. Seit 2012 betreibt sie in Wallhausen einen Segel- und Motorbootschulstandort. Im Coronajahr 2020 übernahm die gebürtige Konstanzerin das 1971 gegründete Radolfzeller Wassersportzentrum von den Alteignern, die sich in den Ruhestand verabschiedeten und brachte so die beiden Standorte Konstanz-Wallhausen und Radolfzell zusammen. „So wie es vor über 50 Jahren bereits der Fall war.“

Rechts: Der Herzensteg im Radolfzeller Streuhau. Hier liegen die Motorboote von Vereinen und der Feuerwehr. Die Motorboote der ...
Rechts: Der Herzensteg im Radolfzeller Streuhau. Hier liegen die Motorboote von Vereinen und der Feuerwehr. Die Motorboote der Segelschule Wilde Flotte sollen nun hier weg. | Bild: Jarausch, Gerald

Mit nun mehr als zwei Dutzend Booten, 12 Festangestellten und vielen studentischen Kräften gehört die Wilde Flotte heute zu den größten Branchenbetrieben am westlichen Bodensee. Tausende Wassersportler habe man im Lauf der Jahre zu Bodenseeschifferpatenten und Sportbootführerscheinen geführt, sagt Wild.

Viel investiert – im Vertrauen auf langfristige Perspektive

Rund eine Dreiviertelmillion Euro habe man seit 2020 in Kauf, Sanierung und Ausbau von Räumen und Bootspark am Radolfzeller Standort investiert. Unter anderem wurde ein großes Gewerbegrundstück im Hinterland als Winterlager mit Werkstatt erworben.

Besonders stolz ist die 44-Jährige auf das 15 Meter lange historische Plattbodenschiff Seewiefke, das sich zu einem Aushängeschild der Wilden Flotte und auch des „Bootstourismus am Untersee“ entwickelt habe, wie die Chefin der Wilden Flotte sagt. Sogar die Stadt wirbt mit dem Unikat auf ihrer Webseite.

Aushängeschild der Wilden Flotte: Plattbodenschiff Seewiefke auf den Untersee.
Aushängeschild der Wilden Flotte: Plattbodenschiff Seewiefke auf den Untersee. | Bild: Wilde Flotte

Alt-OB gab Standortgarantie

„Wir haben sehr viel Zeit und Geld in die Hand genommen, um das alles aufzubauen, weil wir an das touristische Potenzial in Radolfzell geglaubt haben, aber auch weil wir sicher waren, eine langfristige Perspektive zu haben“, sagt sie.

Grund dazu gab es. Bei der Übernahme der Radolfzeller Segelschule 2020 habe der damalige Oberbürgermeister Martin Staab, dem Betrieb „eine Standortgarantie bis ins Jahr 2033“ gegeben. „Mündlich und schriftlich“, sagt Wild. „Solange es den Herzensteg gibt, solange gibt es auch die Segelschule Radolfzell“, soll der Alt-OB damals versichert haben.

Zankapfel Herzensteg und Streuhau

An dem im Streuhau gelegenen Herzensteg haben die Wilde Flotte, aber auch Motorboot-Vereine und die Feuerwehr, ihre Boote festgemacht. Wild versteht nicht, dass nur ihre Schiffe – darunter das große historische Segelboot – weichen sollen, während die Motorboote der Vereine bis 2033 am Steg verbleiben können. „Da wird mit zweierlei Maß gemessen“, sagt sie.

Eine Mütze liegt auf einem Tisch der Wilden Flotte in Radolfzell.
Eine Mütze liegt auf einem Tisch der Wilden Flotte in Radolfzell. | Bild: Wilde Flotte

Die Stadt bestreitet das. In dem Bereich, nahe eines Naturschutzgebiets, gehe es „um eine sukzessive Reduzierung der intensiven Nutzung“. Vereine und Feuerwehren seien dabei „in ihrer Funktion nicht mit Gewerbetreibenden zu vergleichen“, sagt eine Sprecherin der Stadt Radolfzell.

OB Gröger habe sich persönlich um den Fall gekümmert. Allerdings hätten persönliche Treffen mit Wild erst nach der Vertragskündigung stattgefunden.

Alt-Eignerin mit eidesstattlicher Erklärung

Mittlerweile hat sich auch die Alt-Eignerin der Segelschule, das Radolfzeller Wassersport-Urgestein Carola Habenicht, in die Diskussion zwischen der Stadt, die ihre umfassenden Renaturierungspläne vorantreiben will, und der Bootsschule, eingeschaltet.

In einem Schreiben, das dem SÜDKURIER vorliegt, bestätigt Habenicht per eidesstattlicher Erklärung, dass der Ex-OB Staab im Herbst 2020 nach Prüfung der Verkaufsverträge die Garantie einer „langfristigen Existenzberechtigung“ für die Wassersportschule „bis mindestens ins Jahr 2033“, ausgesprochen habe. Im Verlauf des Gesprächs habe Staab zudem Entwicklungsoptionen über das Jahr 2033 hinaus aufgezeigt.

Nicht für möglich gehalten, dass die Politik den Stecker zieht

Verkäuferin Habenicht und Käuferin Wild verließen sich auf die Zusage. „Dass uns ein neuer Gemeinderat mit anderen Interessen einfach den Stecker zieht, hatten wir nicht für möglich gehalten“, sagt Wild.

Von der Stadt heißt es, mündliche Zusagen des Alt-OBs Staab seien nicht bekannt. Inwieweit schriftlich verwertbare Zusagen vorlägen, werde derzeit noch geprüft.

Naturschutz gegen Boote?

Als treibende Kraft hinter dem kommunalen Richtungswechsel sieht Wilde-Flotte-Chefin Wild Teile der Freien Grüne Liste im Gemeinderat. Diese störten sich daran, dass ihr Betrieb neben der Segelausbildung auch Motorbootpatente und Boots-Charter anbiete, vermutet sie. Entsprechende Posts auf Facebook würden dies nahelegen.

Klassisches Ausbildungsschiff für das Bodenseeschifferpatent.
Klassisches Ausbildungsschiff für das Bodenseeschifferpatent. | Bild: Wilde Flotte

Regressforderungen in siebenstelliger Höhe gegen Stadt

Nach der Kündigung aller Miet- und Pachtverträge der Wilden Flotte durch die Stadt droht der Streit zu eskalieren. Nach Informationen des SÜDKURIER stehen Regressforderungen der Wilden Flotte in Höhe von nahezu einer Million Euro im Raum.

Grund sind entgangene Gewinne, entstehende Steuernachteile und Investitionen. Wild sagt, man erwarte von der Stadt „zeitnah ernsthafte finanzielle Zusagen“.

Über das Vorgehen und die Art und Weise, wie man einen Traditionsbetrieb aus Radolfzell „hinauskomplimentiere“, sei sie „schockiert“. Nicht zuletzt wegen der Arbeitsplätze vor Ort. Aber sie fügt auch an: „Wo wir nicht willkommen sind, da werden wir auch nicht bleiben.“