Herr Schick, die Corona-Pandemie beeinträchtigt das Leben von allen massiv. Sie sagen, der Einfluss der Pandemie auf die Finanzmärkte ist größer als 2008 bei der Lehmann-Pleite. Wieso fühlt sich das momentan für die Öffentlichkeit nicht so an? Die wenigsten werden von den Kursverlusten im März direkt betroffen gewesen sein.
Die massiven Kursverluste plus das Einschreiten der Notenbanken ist von der Öffentlichkeit kaum bemerkt worden, weil die gesundheitlichen Fragen im Vordergrund standen. Aber schon der März hat deutlich gemacht: Das ist kein stabiles System, das wir da haben und das muss uns Sorgen machen. Zudem werden viele Folgen von Corona für die Finanzindustrie erst in den kommenden Monaten sichtbar. Das meiste wird aktuell noch durch die Hilfsmaßnahmen der Regierungen abgefedert. Aber dann werden mehr Kredite ausfallen und manche Banken Probleme bekommen, da sie zu riskant agieren.
Kommt der große Crash noch? Was kommt noch auf uns zu, wenn zum Beispiel die Fristen für die Insolvenzanmeldung ablaufen?
Es kommen sicher zahlreiche Insolvenzen von Unternehmen und Privathaushalten auf uns zu. Diese Wirtschaftskrise ist nicht zu unterschätzen. Das kann auch im Bankensektor noch einiges durcheinander bringen. In den letzten Jahren ist durch die niedrigen Zinsen sehr viel kreditfinanziert worden. Ich befürchte, dass da noch einige unangenehme Sachen kommen werden, auch am Finanzmarkt. Die jetzige Ruhe hat auch damit zu tun, dass die Politik den Banken massiv mit Erleichterungen entgegengekommen ist.
Was gab es für Erleichterungen?
Die Banken dürfen bestimmte Puffer nutzen, die für Krisenzeiten vorgesehen sind. Das ist auch richtig, zeigt aber auch, dass die Banken das Kapital brauchen. Zudem wurde die Transparenz bei wichtigen Kennzahlen durch verfälschende Maßnahmen beerdigt.

Gehören Banken und Fonds zu den Gewinnern der Corona-Krise?
Einige Finanzdienstleister können wieder fette Gewinne vermelden, während viele Unternehmen der Realwirtschaft große Sorgen haben. Das ist eine Fehlentwicklung, die nicht erst seit Corona zu beobachten ist, die jetzt aber sichtbarer wird. Im Finanzsektor wird häufig zu Lasten der Realwirtschaft sehr gut verdient. Die Erträge werden nicht mehr da vereinnahmt, wo die Menschen am Fließband stehen oder gute Ideen haben, sondern sie fließen immer mehr an die Geldgeber. Diese Fehlentwicklung müssen wir korrigieren. Das ist nicht gerecht und das ist nicht gut für die wirtschaftliche Entwicklung.
Was muss sich ändern, um das Finanzsystem dauerhaft zu stabilisieren und weniger anfällig für Schocks zu machen?
Wir brauchen mehr Puffer im System. Gerade Banken und Versicherungen arbeiten zu wenig mit Eigenkapital und zu viel mit Schulden. In der Realwirtschaft hat ein Unternehmen 20 bis 30 Prozent Eigenkapital. In schlechten Zeiten ist dann genug Puffer da, um Verluste abzufedern. Große Banken, die besonders gefährlich sind, wenn sie wackeln, haben mit drei oder vier Prozent sehr wenig Eigenkapital. Mindestens zehn Prozent wären nötig, damit die Banken in Krisen nicht so schnell nach dem Geld der Steuerzahler schreien.
Warum hat man nach der Finanzkrise 2008 nicht stärker gegensteuert? Da gab es Möglichkeiten, die Banken stabiler aufzustellen.
2008 und 2009 hat die Öffentlichkeit sich für das Thema Banken interessiert. Da sind viele gute Initiativen für bessere Regeln am Finanzmarkt auf den Weg gebracht worden. Als die Aufmerksamkeit weg war, wurde es wieder zum Spezialistenthema. Aber die Spezialisten kommen meist aus der Branche und wollen Geld verdienen. Es gibt nur wenige unabhängige Leute, die dagegen halten. Es ist dann nicht mehr gelungen, gute Regeln durchzusetzen.
Und da setzt die Arbeit von Finanzwende an?
Genau. Wir wollen sicherstellen, dass diese Themen in der Öffentlichkeit präsent sind. Es braucht eine zivilgesellschaftliche Arbeit zu diesen Fragen. Sonst setzen sich die Banken mit ihren Interessen durch. Die Finanztransaktionssteuer ist damals auf den Weg gebracht worden und inzwischen ist sie praktisch tot. Da gibt es noch mehr Beispiele. Das ist seit 2008 ein 17:0 für die Finanzlobby. Aber wir organisieren jetzt das Rückspiel.

Das unterschiedliche Kräfteverhältnis spiegelt sich auch in der aktuellen Krise wider. Unternehmen wie Adidas und VW schütten ihre Dividenden aus und gleichzeitig kassieren sie Kurzarbeitergeld für ihre Angestellten. Wie stehen sie dazu?
Das geht gar nicht und führt dazu, dass es in dieser Krise eine extrem ungerechte Umverteilung von unten nach oben gibt.
Diese gesellschaftliche Verantwortung werden die Unternehmen nicht freiwillig übernehmen. Wie kann es gelingen, sie dahin zu kriegen?
Die Hilfsmaßnahmen müssen an Bedingungen gekoppelt sein. Zum einen in keinem Fall Gewinnausschüttungen an Aktionäre und Bonuszahlungen an Vorstände, wenn Unternehmen Hilfe bekommen. Es muss sichergestellt sein, dass diese Unternehmen nicht gleichzeitig den Steuerzahler austricksen, indem sie in irgendwelchen Schattenfinanzzentren ihre Gewinne verstecken, wie offenbar die Lufthansa auf Malta. Das Dritte ist eine Klimastrategie einzufordern, um zu verhindern, dass wir von Krise zu Krise wanken.
Das Thema Finanzmärkte erscheint vielen zu kompliziert. Wie findet ein interessierter Bürger am besten den Einstieg in das Thema, ohne dafür gleich VWL zu studieren?
Vieles ist absichtlich zu kompliziert. In Deutschland werden viele komplexe Finanzprodukte verkauft, die in anderen Ländern verboten sind, weil sie zu kompliziert sind. Es wäre falsch, von allen Bürgern zu erwarten, dass sie diese Komplexität verstehen, sondern sie muss reduziert werden. Das können wir gemeinsam erzwingen. Der Fall mit den Cum-Ex-Geschäften hört sich hochkompliziert an, ist aber ganz einfach. Ein paar Leute haben mit trickreichen Geschäften den Staat um Milliarden betrogen. Die richtigen Fragen wären: Warum haben die Experten in der Finanzaufsicht diese Geschäfte nicht verstanden und gesehen? Warum ist die Staatsanwaltschaft so schlecht ausgestattet, um die Täter hinter Gitter zu bringen? Wir dürfen uns nicht von der Komplexität verunsichern lassen.
Warum sollten wir uns alle mehr für die Finanzwirtschaft und die Mechanismen interessieren?
In meinem Buch „Die Bank gewinnt immer“ versuche ich, das deutlich zu machen. Es gibt zum einen den finanziellen Schaden. Viele Menschen sind von unserem Finanzmarkt negativ betroffen, etwa durch Anlagebetrug. Sie müssten anfangen sich zu wehren. Nicht nur individuell, sondern so, dass sich am Ende das System ändert und es weniger Verlierer gibt. Andere Menschen sind keine direkten Verlierer, aber trotzdem geht durch den Finanzmarkt etwas kaputt in unserer Gesellschaft. Es geht massiv Vertrauen verloren.

Mafia, das hört sich immer ganz weit weg an. Welche Rolle spielen diese kriminellen Strukturen in Deutschland?
Gerade Deutschland hat ein Problem mit Finanzkriminalität. Mafiaorganisationen setzen sich hier fest, indem sie ihr dreckiges Geld in Immobilien und Unternehmen investieren. So unterstützen wir kriminelle Organisationen aus Mexiko, Italien und Kolumbien, die Frauen in Zwangsprostitution stecken und mit Drogen handeln. Wir sollten nicht zulassen, dass Deutschland ein Eldorado für Geldwäsche ist. Mit dem deutschen Finanzsystem unterstützen wir aktiv die übelsten Typen, die in dieser Welt herumlaufen. Und ich finde, wir sollten das beenden.
Wie lässt sich das beenden?
Da ist einiges zu tun. Bei Wirecard haben sich zwei Institutionen gestritten, wer eigentlich für die Geldwäscheaufsicht zuständig ist. Die Zuständigkeiten müssen geklärt werden. Die Bundesländer sind für einen Teil der Geldwäscheaufsicht zuständig, haben da aber kaum Personal. Außerdem haben wir vorgeschlagen, alle Immobilien zu beschlagnahmen, bei denen sich nicht herausfinden lässt, wer hinter den Fonds und Strohmännern steht. Deutschland wäre unattraktiv für Gelder von Autokraten und Mafiaorganisationen, wenn sie hier nicht anonym Immobilien kaufen können.
Sie bringen diese Vorschläge als Vorstand einer Nicht-Regierungs-Organisation vor. Wie wird das angenommen?
Vielen Politikern ist die Bedeutung des Themas nicht klar. Ich habe vor ein paar Jahren einen italienischen Staatsanwalt in den Bundestag eingeladen, um meinen Kollegen die Verflechtungen bei der Geldwäsche klar zu machen. Die ware
n erstaunt, als er ihnen sagte, bei praktisch jedem Mafiafall, den er in Italien bearbeitet, spielt Geldwäsche in Deutschland eine Rolle. Wir glauben immer, bei uns gibt es keine Mafia. Wir sind die feine Demokratie, die international für Menschenrechte eintritt. Aber solange unser Finanzsektor es ermöglicht, dass Kriminelle ihr Geld hier waschen, sind wir Teil des Problems.

Sie sind aus der Politik zu einer Bürgerbewegung gewechselt. Haben Sie das jemals bereut?
Ich bin kurz ins Zucken gekommen als der Wirecard-Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde. Die Arbeit im Untersuchungsausschuss hat mir immer viel Spaß gemacht. Aber der Wechsel war absolut richtig. Wir schaffen es Menschen zusammenzubringen, die vorher nicht zusammengearbeitet haben. Ich wurde aus Banken und Aufsichtsbehörden angeschrieben und habe Hinweise bekommen. Das ist vorher nicht passiert, weil diese Leute keinen Parteipolitiker unterstützen wollen, eine parteiunabhängige Bewegung schon. Und die Resonanz in der Bürgerschaft ist super. Wir haben in zwei Jahren schon über 3500 Mitglieder gewonnen. Trotzdem müssen wir noch stärker werden. Mit der Stärke der Lobby verglichen, sind wir noch eine schwache Truppe.
Viele Experten und Bürger gehen den Weg mit Ihnen gemeinsam. Was haben sie in den zwei Jahren noch erreicht?
Nach dem Wirecard-Skandal sind wir jetzt im Finanzministerium eingeladen an der Reform der Finanzaufsicht mitzuarbeiten. Das zeigt, dass wir ernst genommen werden und unsere Ideen einbringen können. Außerdem haben wir gegen den Finanzdienstleister MLP Erfolge errungen. Der hat sich über eine Hochschulinitiative an Studierende ran geschlichen, um später Produkte zu verkaufen. Jetzt sind die Kurse klar als MLP-Kurse gekennzeichnet und es wird deutlich, dass es keine unabhängige Bildungsinitiative ist. Die Unternehmen reagieren auf unsere Arbeit.

Ihre Bürgerbewegung wird von der European Climate Foundation (ECF) unterstützt. Was hat eine Restrukturierung der Finanzmärkte mit dem Klima zu tun?
Der Finanzsektor, das zeigt eine Studie der Bank of England, finanziert heute eine Erderwärmung von 4 Grad. Wenn wir Kohlekraftwerke abschalten und Verbrennungsmotoren ersetzen wollen, ist es entscheidend, was unsere Banken, Fonds und Versicherungsgesellschaften finanzieren. Da hat der nötige Wandel in den Geschäftsmodellen noch nicht stattgefunden. Deswegen kann man die Rolle des Finanzsektors gar nicht überschätzen. Es wird immer noch Geld in die alte Ölwirtschaft investiert, dabei müssten die Finanzströme in neue Technologien fließen, damit wir nach und nach einen Wandel hinbekommen.
Niemand möchte auf die guten Renditen verzichten. Die erneuerbaren Energien und neuen Technologien werfen noch nicht so viel ab…
Das stimmt so nicht. Viele Studien zeigen, dass die Rendite häufig besser ausfällt, wenn ökologische und soziale Implikationen berücksichtigt werden und es um eine längerfristige Anlage geht. Fonds, die genau hinschauen, wo sie investieren, sind bei manchen Problemunternehmen früher ausgestiegen, zum Beispiel bei VW. Die Frage ist auch, ob der Finanzsektor zu kurzfristig orientiert ist und nur auf die Renditen für die nächsten Quartale schaut. In einer Wirtschaft, in der es nur ums Geldverdienen geht, müssen ökologische und soziale Fragen unter die Räder kommen. So zu wirtschaften, ergibt keinen Sinn.