Der Ausstieg aus russischen Energielieferungen in Folge des Ukraine-Kriegs schreitet voran. Doch während die Abkehr von Kohle und Öl noch einigermaßen abzufedern ist, stellt der Verzicht auf Russlandgas Deutschland vor enorme Probleme. Daher ist eine Diskussion entbrannt, welche Gasverbraucher – vom Haushalt bis zum Industriebetrieb – als erste von der Versorgung abgenabelt werden müssen. Ein Überblick über die Diskussion:

Wie ist die Ausgangslage?

Deutschland hat für größere Störungen der Energielieferungen vorgesorgt und für Gas, aber auch für Strom, Mechanismen entwickelt, gegenzusteuern. Diese folgen der Maxime, den deutschlandweiten Energieverbrauch koordiniert zu senken, wenn es zu gravierenden Einschränkungen des Energieangebots kommt und auch die über die Bundesrepublik verteilten großen Gas-Kavernenspeicher nicht mehr weiterhelfen.

Wie funktioniert das Notfallsystem beim Gas genau?

Um zu entscheiden, wer in Extremsituationen nicht mehr beliefert wird, werden alle Gaskunden in Gruppen eingeteilt. Am besten dran sind die sogenannten „geschützten Kunden“.

Im Moment bezieht Deutschland 35 Prozent seines Gases aus Russland.
Im Moment bezieht Deutschland 35 Prozent seines Gases aus Russland. | Bild: Marijan Murat, dpa

Was sind geschützte Kunden?

Dabei handelt es sich nicht, wie oft kolportiert, nur um Haushalte. Vielmehr gelten als „geschützt“ alle kleinen Gasverbraucher, die auch zu Spitzenzeiten nur recht wenig Energie abnehmen. Dazu gehören auch etwa Restaurants, Läden oder kleine Gewerbebetriebe. Maßgeblich ist, dass sie pro Jahr nicht mehr als 1,5 Millionen Kilowattstunden Energie verbrauchen und über eine Anschlussleistung von maximal 500 Kilowatt verfügen. Zum Vergleich: Ein Haushalt benötigt knapp 20.000 Kilowattstunden Gas im Jahr.

Zudem sind laut Energiewirtschaftsgesetz „grundlegende soziale Einrichtungen“ in Krisenzeiten privilegiert, also etwa Krankenhäuser oder Altenheime. Auch Industriebetriebe sind geschützt, aber nur dann, wenn sie mit der von ihnen erzeugten Abwärme Wohnungen heizen.

Wer kann noch sicher sein, nicht vom Gas abgeklemmt zu werden?

Auch bestimmte Gaskraftwerke werden in Notlagen so lange als möglich weiter mit Gas versorgt, und zwar genau dann, wenn sie als systemrelevant gelten. Das bedeutet, dass die Stromversorgung ohne sie ins Wanken kommen würde oder sie für die Bereitstellung von Fernwärme wichtig sind. In Süddeutschland gibt es indes seit Jahren zu wenige dieser Meiler – ein bis heute nicht gelöstes Problem.

In Summe gilt: „Ziel aller Maßnahmen ist eine optimale Versorgung sowohl der geschützten Kunden, als auch der systemrelevanten Kraftwerke“, wie es vom größten baden-württembergischen Gasnetzbetreiber, der EnBW-Tochter Terranets-BW, heißt.

Wer hat bei der Gasversorgung im Krisenfall das Nachsehen?

Die rote Laterne tragen laut Energiewirtschaftsgesetz sogenannte „nicht geschützte Kunden“. Das sind beispielsweise Industriebetriebe. Dahinter steckt die Einschätzung, dass es im Extremfall unwichtiger ist, ein Stahlblech oder einen Kunststoffprodukt zu produzieren, als ein Pflegeheim, eine Notfallambulanz oder eine Wohnung zu beheizen. Allerdings ist darüber im Kontext des Ukraine-Kriegs ein Streit entstanden.

Warum wird überlegt, die Industrie in Extremszenarien mit Gas weiter zu beliefern?

Sollte Putins Russland Deutschland den Gashahn zudrehen (oder die Bundesrepublik freiwillig ein Embargo ausrufen) würde das alle bisher gekannten Mangellagen weit in den Schatten stellen. Bisherige Extremereignisse – etwa die Gas-Winterkrise im Februar 2012 in Baden-Württemberg – waren regional und zeitlich eng begrenzt.

Ein Ende der Gasflüsse aus Russland wäre dagegen ein andauerndes, kontinentales Problem. Dieses würde die massivsten Effekte im Baltikum und in Südosteuropa zeitigen, wo bei Gas eine nahezu 100-prozentige Abhängigkeit von Russland besteht. Deutschland, wo es auch auf Grund saisonaler Effekte gelungen ist, die Russland-Abhängigkeit bei Erdgas in kurzer Zeit auf 35 Prozent zu drücken, wäre schlicht aufgrund seiner Größe massiv betroffen.

Ein Tanker ankert im Rhein vor der BASF. Ein Gasstopp träfe BASF hart.
Ein Tanker ankert im Rhein vor der BASF. Ein Gasstopp träfe BASF hart. | Bild: Uwe Anspach, dpa

Was fürchtet die Industrie?

In den letzten Wochen haben sich vor allem Vertreter energieintensiver Branchen, aber auch Wirtschaftsverbände und Kammern zu Wort gemeldet. So forderte Eon-Aufsichtsratschef Karl-Ludwig Kley, sich Gedanken über eine „umgedrehte“ Reihenfolge bei der Gas-Priorisierung zu machen. Im Klartext: Erst bei den geschützten Kunden sparen, dann bei der Industrie.

Harald Marquardt führt den milliardenschweren Automobilzulieferer Marquardt aus Rietheim-Weilheim und ist gleichzeitig ...
Harald Marquardt führt den milliardenschweren Automobilzulieferer Marquardt aus Rietheim-Weilheim und ist gleichzeitig Südwestmetall-Chef in der Region Schwarzwald-Hegau: Sollte die Industrie bei einem Gas-Embargo allein in vorderster Front stehen, fürchtet er massive Auswirkungen und Arbeitslosigkeit | Bild: Marquardt

Zu Wochenbeginn sprach sich Harald Marquardt, Vorsitzender der Südwestmetall-Bezirksgruppe Schwarzwald-Hegau, dafür aus, im Falle von Versorgungsengpässen Privathaushalte und Industrie gleich zu behandeln: „Also, dann lieber die Heizung im kommenden Winter etwas zurückdrehen und dafür der Industrie die Chance geben, weiter für Wertschöpfung und gute Arbeit am heimischen Standort zu sorgen“, sagte er. Es gehe um eine „faire“ Verteilung, und darum, „möglichst viele Arbeitsplätze“ zu retten.

Torsten Höck ist Geschäftsführer des Südwest-Energieverbands VfEW. Er sagt, es sei schwer vorstellbar, Menschen in ihren Wohnungen ...
Torsten Höck ist Geschäftsführer des Südwest-Energieverbands VfEW. Er sagt, es sei schwer vorstellbar, Menschen in ihren Wohnungen frieren zu lassen. | Bild: VfEW

Gibt die Politik der Industrie nach?

Im Moment sieht es nicht danach aus, ausgemachte Sache ist das aber noch lange nicht. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sagte vor wenigen Tagen, es sei „undenkbar, dass bei der Großmutter zuhause die Wohnung kalt ist.“ Ähnlich äußerte sich Torsten Höck, Geschäftsführer des Südwest-Energieverbands VfEW. Dennoch ist die Debatte im Fluss. Der Präsident der Bundesnetzagentur und Ex-Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbands, Klaus Müller, sagte jüngst, die Frage sei „legitim und notwendig, was ich in einer Gasnotlage zuhause tun kann oder muss, um Gas, CO2 und Geld zu sparen“. Das gelte für die Industrie wie für private Verbraucher gleichermaßen.

Warum ist das Land so schlecht vorbereitet?

Seit der letzten Gaskrise 2012 – damals wurde Gas zeitweise für Kraftwerke und Industrie kontingentiert – ist einiges geschehen, manche sagen aber: „nicht genug“. Immerhin: Landesregierung und Netzbetreiber träfen sich regelmäßig zum Austausch über die Lage, wie VfEW-Geschäftsführer Höck sagt. Und es würden Engpassszenarien simuliert, etwa 2018 in der sogenannten Lükex Übung. Außerdem wurden in den vergangenen Jahren sogenannte Solidaritätsvereinbarungen zwischen den deutschen Ferngasnetzbetreibern geschlossen, sich im Notfall gegenseitig auszuhelfen.

Helmut Kusterer ist einer der langjährigsten Kenner des Gasgeschäfts im Südwesten. Der Ex-GVS-Manager führt heute das ...
Helmut Kusterer ist einer der langjährigsten Kenner des Gasgeschäfts im Südwesten. Der Ex-GVS-Manager führt heute das Beratungsunternehmen Platform & Commodity Consult | Bild: Kusterer

Gas-Experten wie Helmut Kusterer kritisieren aber, es fehle der nötige Überblick, wer überhaupt wie viel Gas verbrauche. Erst diese Woche startete die Bundesnetzagentur etwa eine Abfrage der 2500 größten Gasverbraucher der Republik, auf wie viel Energie sie im Notfall verzichten können. „Viel zu spät“, wie der Ex-Manager beim Gasgroßhändler GVS sagt. Und noch etwas bemängelt der Branchenkenner. Früher verfügten nahezu alle großen Industriebetriebe über Gasabnahmeverträge, die die Kappung von Gas-Mengen vorsahen, sollte es zu Engpässen kommen. Die Firmen warfen dann einfach komplementäre Ölbrenner an. Heute ist das unüblich, die Abhängigkeit vom Gas viel höher.

Was ist das Problem im Südwesten?

Achillesferse im Südwesten ist die große Abhängigkeit von Gasspeichern in anderen Bundesländern. Ein nennenswerter Aufbau von Kapazitäten hat nach Angaben von Fachleuten im letzten Jahrzehnt nicht stattgefunden. Wenigstens wurde aber verhindert, dass Speicher aus marktwirtschaftlichen Gründen aus dem Markt verschwinden. Außerdem hat der Bund jüngst Mindestfüllstände für die deutschen Gasspeicher zu Winterbeginn verfügt.