Stefan Stahl

Herr Sinn, Sie haben schon Ende 2020 auf die Risiken der Inflation im Euro-Raum hingewiesen. Was stimmte Sie so besorgt?

Dass die Kombination aus Lockdowns und Staatsverschuldung eine Inflation hervorrufen würde, war aus der Sicht der volkswirtschaftlichen Theorie zu erwarten. Deshalb habe ich gewarnt. Inflation ist wie ein Feuer, dem man nicht früh genug vorbeugen kann.

Doch Vorbeugung fand nicht statt. So stieg die Inflation in Deutschland für 2021 auf wohl satte 3,1 Prozent. Und das Feuer lodert weiter.

Selten habe ich mich als Ökonom so hilflos gegenüber den sich abzeichnenden Gefahren des Inflationsfeuers gefühlt wie seit meiner Warnung.

Hilflos? So kennt man Sie gar nicht.

Ich fühlte mich hilflos, weil ich einerseits als Ökonom wusste, was getan werden musste, ich aber andererseits nicht naiv bin und genau weiß, dass es für Löschaktionen derzeit keine Mehrheit bei der Europäischen Zentralbank gibt.

Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, tut zu wenig gegen die Inflation, sagen insbesonders Kritiker aus Deutschland.
Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, tut zu wenig gegen die Inflation, sagen insbesonders Kritiker aus Deutschland. | Bild: JOHN THYS, AFP

Versagt EZB-Chefin Christine Lagarde als oberste Feuerwehrfrau?

Die Europäische Zentralbank zögert und redet das Problem klein. Tatsächlich hat die EZB kein wirkliches Interesse an stabilen Preisen.

Dabei beteuert doch auch Frau Lagarde, wie wichtig Preisstabilität sei.

Die EZB definiert Preisstabilität als Inflation.

Was ein Widerspruch in sich ist.

Das ist der große Trick der EZB. Im Maastrichter Vertrag steht, dass die Wahrung der Preisstabilität das vorrangige Ziel der EZB zu sein hat. Preisstabilität heißt null Prozent Inflation. Da sich die Null nicht genau erreichen lässt, hat die EZB lange Zeit argumentiert, man müsse ihr zugestehen, die Inflation unter einer Obergrenze von zwei Prozent halten zu wollen. Das war nachvollziehbar. Inzwischen hat sie die zwei Prozent aber in ein Ziel umdefiniert, das sie nur im Mittel der Jahre bis 2024 anstrebt.

Die Inflation lag 2021 bei knapp über drei Prozent. Das wird noch hochgehen, warnt Ökonom Hans-Werner Sinn.
Die Inflation lag 2021 bei knapp über drei Prozent. Das wird noch hochgehen, warnt Ökonom Hans-Werner Sinn. | Bild: © Stockfotos-MG - stock.adobe.com

Der frühere Bundesbank-Chef Jens Weidmann hat vor den Folgen der EZB-Politik gewarnt und sein Amt aufgegeben, nachdem seine Mahnungen nicht Gehör fanden.

Wer weiß, warum er zurückgetreten ist. Auf alle Fälle dürfte es Jens Weidmann keinen Spaß bereitet haben, den durch die EZB-Politik angerichteten Scherbenhaufen weiter ohnmächtig beobachten zu müssen. Vom neuen Bundesbank-Präsidenten Joachim Nagel ist zu hoffen, dass er mehr Gehör findet, wenn er eine Kehrtwende der EZB-Politik einfordert, also sich dafür einsetzt, dass die gigantische Ausweitung der Geldmenge zunächst gebremst und schließlich zurückgeführt wird.

Immerhin kann er auf die Rückendeckung des Kanzlers bauen, was Weidmann bei Angela Merkel nicht konnte. Nagel ist ein versierter Ökonom aus der Bundesbank. Man sollte ihm vertrauen, dass er sich für eine Zinswende weg von Null- und Negativzinsen innerhalb des EZB-Rates einsetzt.

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Die Zinsen müssen also steigen, um die Inflation wirkungsvoll zu bekämpfen?

Die Zinsen sollten schon in diesem Jahr steigen und nicht erst 2023. Das ist schon deshalb angebracht, weil die US-Notenbank angekündigt hat, die Zinsen deutlich zu erhöhen. Wenn die Europäische Zentralbank nicht mit Amerika mitzieht, ergibt sich eine Zinsdifferenz zwischen den USA und Europa – mit der Folge, dass Anleger Geld nach Amerika umlenken. Dann würde der Dollar gegenüber dem Euro aufwerten. Dadurch bekommen wir im Euro-Raum auch noch eine importierte Inflation.

Behält Christine Lagarde am Ende recht und die Inflation bildet sich nach der Corona-Krise zurück?

Darauf darf sie es nicht ankommen lassen. Das Feuer der Inflation muss man sofort austreten. Wir stecken derzeit noch in der ersten Inflationswelle. Diese Welle wird zwar ein wenig abklingen, aber in ihr steckt schon der Ausgangspunkt für die zweite Inflationswelle. Das liegt zum einen daran, dass eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt.

Was heißt das konkret?

Die Gewerkschaften werden also bei den Gehaltsverhandlungen im Laufe des Jahres 2022 die jetzt schon eingetretene Inflation auf ihre Forderungen draufschlagen. Das bedingt dann einen neuen Inflationsimpuls im Jahr 2023. Zum anderen hamstern Firmen angesichts der gestiegenen Inflation schon jetzt in gewaltigem Umfang Vorprodukte. Das verstärkt die Lieferengpässe und die Inflation über das mögliche Ende der Pandemie hinaus.

Das klingt wie ein Teufelskreis.

Ja, zuletzt verzeichneten wir bei den gewerblichen Erzeugerpreisen, unter die solche Vorprodukte fallen, einen Preisschub von rund 19 Prozent binnen eines Jahres. Das ist der höchste Wert seit 1951. Diese Inflation stellt die Inflation während der Ölkrisen in den 70er-Jahren weit in den Schatten. Nun kommen weitere Inflationstreiber wie die Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland um etwa 25 Prozent hinzu. Wegen der nötigen Lohnabstände wird dadurch die ganze Lohnskala nach oben geschoben. Die Gehälter steigen also insgesamt an, und die Firmen geben den Kostendruck an die Verbraucher weiter.

Und die Energiewende wird ja auch noch ein teurer Spaß.

Die von den Grünen mit großem Nachdruck betriebene Energiewende zwingt uns, günstige konventionelle durch teure grüne Energien zu ersetzen. So verständlich die Motive sind: Das wird ein gewaltiger Kostentreiber für die Wirtschaft und befeuert die Inflation. Die Zeichen stehen also klar auf Inflation.

In den 70er Jahren stieg die Inflation in Deutschland im Jahresschnitt um 5,1 Prozent. Rechnen Sie mit einer ähnlichen Entwicklung?

Ja, eine solche Größenordnung liegt für dieses Jahrzehnt im Bereich des Möglichen.

Dabei lautet Ihr Befund, dass die Euro-Inflationsbremse zerstört ist.

Das Euro-Auto ist ohne Bremse unterwegs, weil die EZB ihre Geldpolitik seit 2015 fundamental geändert hat, indem sie für inzwischen über 4000 Milliarden Euro Staatspapiere erwarb. Früher hat sie den Banken frisch gedrucktes Geld für ein paar Tage geliehen.

Seit 2015 kauft die EZB mit dem Geld aus der elektronischen und physischen Druckerpresse von ihnen Staatspapiere mit einer Laufzeit von bis zu 31 Jahren. Die EZB müsste diese Papiere wieder aktiv verkaufen, um die Geldmenge zu verringern, weil hier nicht einfach eine Frist abläuft.

Joachim Nagel (rechts), neuer Präsident der Deutschen Bundesbank, lächelt während der Amtswechselfeier der Bundesbank. In einer ...
Joachim Nagel (rechts), neuer Präsident der Deutschen Bundesbank, lächelt während der Amtswechselfeier der Bundesbank. In einer virtuellen Feierstunde verabschiedete die Bundesbank Anfang Januar 2022 in Frankfurt ihren langjährigen Präsidenten Weidmann (links) und begrüßte dessen Nachfolger Nagel. Er soll die Geldwertstabilität innerhalb der EZB-Gremien sichern helfen. | Bild: Nils Thies, dpa

Sie sorgen sich um die Stabilität unseres Geldes. Wie kann man sich gegen Inflation wappnen?

Man kann sich nicht kollektiv gegen Inflation wappnen. Wenn die Bürger versuchen, sich abzusichern, indem sie Realwerte kaufen, steigt die Inflation umso mehr.

Sie sehen uns auch noch in einer Euro-Sackgasse. Wie kommen wir da wieder heraus?

Indem etwa die Bundesregierung gegenüber der EZB interveniert. Deutschland muss seiner Verantwortung gegenüber der Stabilität der Gesellschaft und der Geschichte gerecht werden. Deutschland muss die EZB an ihr Mandat erinnern. Das gefährdet nicht die Unabhängigkeit der Notenbank, denn die besteht nur innerhalb des Mandats. Der deutsche Bundeskanzler und der deutsche Finanzminister sollten den Finger heben.