Im Zweifel für den Angeklagten – so plädiert Pflichtverteidigerin Kristina Müller im Wessenberg-Prozess. Und genau dieser Zweifel wird den weiteren Verhandlungstag und letztlich auch das Urteil prägen: Bis zuletzt ist nicht abschließend geklärt, wie es zu der tätlichen Auseinandersetzung am 2. Februar in der Konstanzer Altstadt gekommen ist, bei der drei junge Männer mit einem Messer verletzt wurden. Eine wesentliche Frage im Prozess: Hat der Angeklagte angefangen oder ging die Aggression von den Geschädigten aus?
Staatsanwältin Claudia Fritschi ergänzt ihr Plädoyer vom Vortag und führt an, dass der Angeklagte seine Bierflasche abgestellt und seine Jacke ausgezogen habe, bevor er gezielt zur Tat geschritten sei. Die Jacke habe er beim Weggehen über dem Arm getragen. Damit will Fritschi verdeutlichen, warum sie davon ausgeht, dass der Erstangriff vom Angeklagten ausging. Sie bleibt bei ihrem geforderten Strafmaß von fünfeinhalb Jahren.
Nebenklage geht von versuchtem Tötungsdelikt aus
Mit ihrer Auffassung vom Geschehen ist die Staatsanwältin nicht allein. „Der Einsatz des Messers stellt eine Zäsur dar“, sagt Rechtsanwalt Sebastian Bösing, Vertreter der Nebenkläger, und fügt an: „Er hat eine lebensgefährliche Handlung begangen.“ Bei einem Stich in den Hals müsse der Angeklagte von einer lebensgefährlichen Verletzung ausgehen. Danach habe er „zielgerichtet auf weitere Beteiligte eingestochen“, so Bösing. Er sieht einen Tötungsversuch und erachtet eine Gesamtstrafe von siebeneinhalb Jahren als „angemessen“. Dem schließt sich Rechtsanwalt Jens Weimer als weiterer Vertreter der Nebenklage an.
„Die Kammer hat sich große Mühe gegeben, den unüberschaubaren Vorgang vollständig aufzuklären“, stellt Pflichtverteidigerin Müller fest. Doch das ist während der Verhandlung nicht gelungen. Zum Sachverhalt habe das Gericht verschiedene Varianten gehört. Sie spricht die „großen Probleme mit den Zeugenaussagen“ an, wobei auch das Wort „Verweigerungshaltung“ fällt.
Haben die Geschädigten angegriffen?
Gewicht misst Müller der Aussage des Begleiters des Angeklagten bei, die Geschädigten hätten die Auseinandersetzung begonnen. „Er war nur ein Bekannter“, die anderen Zeugen seien hingegen miteinander befreundet. „Er hat keinen Grund, bewusst falsch auszusagen“, betont sie. Bei der Polizei hätte er keine Aussage machen müssen, da er anfänglich noch als Beschuldigter geführt wurde. Und doch habe er detailliert Auskunft gegeben. Zu den Ausführungen der Staatsanwältin merkt Müller an, keiner wisse, wann und warum der Angeklagte seine Bierflasche abgestellt und seine Jacke ausgezogen habe.
Nicht in Zweifel zieht sie die Darstellung, wonach der Angeklagte von zwei der Geschädigten in eine Ecke gedrängt wurde und mit dem Rücken zur Wand stand. Dies hätten auch zwei der Geschädigten sowie ein Anwohner bestätigt. „Das können wir nicht einfach abtun“, so Müller. Und sie führt aus: Es gebe keinen Beweis, dass der Angeklagte so planvoll vorgegangen sei, wie die Staatsanwaltschaft es ihm vorwerfe, es sei ein „dynamisches Geschehen“ gewesen, und es gebe „keine belastbaren Angaben, wie sich die Situation aufgelöst hat“.
Hat der Angeklagte aus Notwehr gehandelt?
Der Angeklagte „ist noch nie in Erscheinung getreten“, so die Verteidigerin, und er werde von seinem Arbeitgeber und seinen Kollegen als ruhig, freundlich und zurückhaltend beschrieben. Sie geht davon aus, dass der erste körperliche Angriff von einem der Geschädigten ausgegangen sei und die anderen Geschädigten sich beteiligt hätten, sodass „wir grundsätzlich von Notwehr ausgehen müssen“.
Der Angeklagte sei in großen Teilen geständig gewesen, die Verletzungen seien nur abstrakt lebensgefährlich gewesen und die Opfer hätten keine körperlichen Folgeschäden. Sie fordert Freispruch. Zuletzt darf der Angeklagte sprechen. Er entschuldigt sich nochmals und bittet um Vergebung. Er betont, wie leid es ihm tue, und dass sich so etwas nie mehr wiederhole.
Im Zweifel für den Angeklagten
Der Vorsitzende Richter Arno Hornstein verkündet letztlich das Urteil, das für viele überraschend kommt: „Der Angeklagte wird freigesprochen.“ Dem soeben Freigesprochenen kommen die Tränen. Die Kammer dürfe sich in der Urteilsfindung nicht auf Wahrscheinlichkeiten stützen, begründet Hornstein. Nur Fakten zählten: Die Kammer „muss voll überzeugt sein vom Sachverhalt und der Schuld des Angeklagten“, so Hornstein.
Die drei Berufsrichter und zwei Schöffen hätten allerdings nicht zweifelsfrei feststellen können, was am 2. Februar genau passiert ist. Die Kammer habe die schwächsten Beweismittel gehabt, die es im Strafprozess gibt: Zeugen. Zeugen, die teilweise „lustlos“, „suggestionsanfällig“ oder „sehr bemüht“ gewesen seien, schildert Hornstein. Neutrale Zeugen habe es kaum gegeben. „Spuren, die nicht lügen können“ lagen kaum vor, so Hornstein.
Drei junge Menschen wurden schwer verletzt. Das steht außer Frage. Aber: „Wir müssen die Sache cool und klar juristisch abarbeiten“, erklärt der Richter. Zu dem Aufeinandertreffen am 2. Februar in der Wessenbergstraße habe es mindestens vier Versionen gegeben, aus welcher Richtung der Angeklagte und dessen Begleiter kamen. Auch habe die Kammer nicht feststellen können, ob der Angeklagte eine der Frauen sexuell angepöbelt habe. Dann gab es, so viel sei unumstritten, einen verbalen Streit. „Aber wer hat angefangen mit Schubsen?“, so Hornstein. Es spreche vieles dafür, dass es einer der Geschädigten gewesen sei. „Aus Gründen des Zweifels können wir es nicht ausschließen.“ Was danach geschah, sei im Detail unklar.
Der Angeklagte, so die Urteilsbegründung weiter, habe sich zwei bis drei Angreifern mit einer Körpergröße von um die zwei Meter gegenübergesehen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass „einer aus Verzweiflung um sich sticht“, so Hornstein, der die Tatwaffe als „kleines Messerchen“ bezeichnet. Es sei ebenso nicht feststellbar gewesen, dass in gezielte Körperregionen gestochen worden sei, „schon gar nicht von einem Tötungsvorsatz getragen“, so Hornstein. Eine Notwehrlage könne nicht ausgeschlossen werden.
Am Ende folgt das Gericht der Strafverteidigerin Kristina Müller: im Zweifelsfall für den Angeklagten, also Freispruch. Der Beschuldigte ist aus der Untersuchungshaft entlassen. Für diese Zeit werde er vom Staat entschädigt. Den Schwurgerichtssaal verlässt er als freier Mann. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Ob die Staatsanwaltschaft oder die Nebenklage Rechtsmittel gegen den Freispruch einlegen, dazu machen sie in der Verhandlung keine Angaben.