Es ist eine Verhandlung, die zeigt, wie schwierig sich die Urteilsfindung bei vielen Sexualstraftaten vor Gericht trotz umfassender Beweisaufnahme gestaltet. Es gibt nur zwei Personen, die bei den mutmaßlichen Taten dabei waren: Täter und Opfer.

Auch die Zeugen, die eigentlich die Entscheidungsfindung erleichtern und Hintergründe aufklären sollen, haben verschiedene Perspektiven oder schildern Sachverhalte teilweise gegensätzlich. Die Taten sind außerdem so lange her, dass sich zeitliche Bezüge nur noch schwer rekapitulieren lassen. Ferner gibt es keine objektiven Beweismittel.

Der Prozess vor dem Landgericht Konstanz ist aufgrund all dieser Gründe ein Abziehbild ähnlicher Verhandlungen und Taten. Dabei steht ein 62-Jähriger vor Gericht, dem vorgeworfen wird, seine ehemalige Stiefenkelin mehrfach sexuell missbraucht zu haben, der SÜDKURIER berichtete bereits. Am Ende des Prozesses muss das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Joachim Dospil eine schwierige Entscheidung fällen.

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Schwere Vorwürfe gegen den 62-Jährigen

Der Angeklagte soll seine damals 13- beziehungsweise 14-jährige Stiefenkelin in den Jahren 2018 und 2019 missbraucht haben. Er soll an ihr Geschlechtsverkehr ausgeführt, sowie sie zum Oralsex „überredet“ und sie an verschiedenen Stellen ihres Körpers gestreichelt haben. Das Ganze geschah, so die Staatsanwaltschaft, gegen den Willen des Mädchens. Der Angeklagte bestreitet die mutmaßlichen Taten vehement und bezeichnet sie als Fantasie. Er könne sich nicht erklären, wie es zu solchen Vorwürfen komme.

Auch neun Zeugen und eine Sachverständige werden an drei Verhandlungstagen in der Sache gehört. Dabei sagen unter anderem ein Kriminalbeamter, die Ex-Frau des Angeklagten, die Mutter des Opfers, dessen Bruder und Onkel sowie eine Schulsozialarbeiterin aus. Diese stellen jeweils spezifische Sachverhalte sehr unterschiedlich dar – manche im Sinne des Angeklagten, manche im Sinne der Geschädigten, manche irgendwo dazwischen. Dabei zeigt sich vor Gericht auch, welch tiefer Riss durch die Familie verläuft.

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Die Ausführungen der Sachverständigen

Mit Spannung werden von Prozessbeobachtern die Ausführungen einer Sachverständigen erwartet. Sie soll prüfen, ob die Aussagen und Darstellungen des Opfers glaubwürdig sind. In weiten Teilen gibt sie an, dass es aufgrund mehrerer Umstände keine Indizien dafür gebe, dass das inzwischen volljährige Opfer sich die Taten nur ausgedacht hätte. Zu komplex sei ein solches Lügenkonstrukt, zu wenig Belastungstendenzen gegen ihren Ex-Stiefgroßvater habe es gegeben, zu detailreich seien die Schilderungen auch auf Nachfragen bei den polizeilichen und richterlichen Vernehmungen gewesen.

Nur bei Taten, die gar nicht zur Anklage stehen – unter anderem soll es auch Vorfälle in einem gemeinsamen Mallorca-Urlaub gegeben haben – ist es laut der Sachverständigen nicht mehr eindeutig festzustellen, ob sie wirklich wahrhaftig so passiert sind. Hier macht das Opfer, das im Rahmen der Nebenklage am Prozess teilnimmt, keine eindeutigen Angaben. Hatte es zu diesem Zeitpunkt die Periode, wenn ja, wann und hatte der Geschlechtsverkehr einmal oder mehrere Male stattgefunden. Eine eindeutige Antwort darauf gibt es vor Gericht nicht.

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Drei Jahre Haft für den Angeklagten

Die Staatsanwaltschaft fordert in ihrem Plädoyer, das ebenso wie die Aufzeichnung der richterlichen Vernehmung des Opfers am ersten Prozesstag unter Ausschluss der Öffentlichkeit und somit auch der Presse vorgebracht wird, laut Angaben des Landgerichts eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Die Nebenklage bringt demnach eine „angemessene“ Strafe ohne konkrete Forderung vor. Die Verteidigerin Manuela Gerigk plädiert für einen Freispruch für ihren Mandanten.

Das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Joachim Dospil berät sich lange hinter geschlossenen Türen auf der Suche nach dem Urteil. Am Schluss verurteilt das Gericht den Angeklagten wegen zwei Fällen von schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Der nicht vorbestrafte 62-Jährige muss also ins Gefängnis.

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„Das Verfahren ist tragisch, weil es nur Verlierer gibt“, sagt Joachim Dospil nach der Urteilsverkündung. Die Kammer geht davon aus, dass sich die Taten weitestgehend so, wie in der Anklageschrift festgehalten, abgespielt haben. Allerdings führt das Gericht zwei Taten zu einer zusammen, da sie im selben Kontext und am selben Tag – also als „einheitliches Tatgeschehen“ – verübt worden seien.

Deshalb wird der 62-Jährige wegen zweier Taten verurteilt. Der Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen fällt hingegen weg, da durch zeitliche Abgrenzungen festgestellt werden konnte, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Taten jeweils 13 Jahre alt war.

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Für das Opfer, gegen den Angeklagten

„Es ist eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation“, sagt der Richter. Allerdings glaube man den Ausführungen des Opfers und halte sie für wahrhaftig. Dahingehend folge man der Sachverständigen und verweist auf die „hohe Qualität“ der Aussagen. Die Ausführungen seien im Wesentlichen konstant gewesen, die Abweichungen schlüssig erklärbar. „Kurzum: Wir sind überzeugt, dass Sie die Wahrheit gesagt haben“, so der Richter in Richtung des Opfers.

Die Darstellungen des Angeklagten lässt man demgegenüber nicht gelten, beispielsweise, dass er ein „Nein“ auch in seiner Beziehung mit seiner Ex-Frau stets akzeptiert hatte. „Es wurde aber nie ‚Nein‘ gesagt, entgegenstehend ist einvernehmlicher Geschlechtsverkehr angeklagt und nicht Vergewaltigung“, so Dospil. „Und auch der ist im vorliegenden Fall eben strafbar.“ Damit meint er: Auch wenn das Mädchen nicht aktiv Nein gesagt und sich gewehrt habe, ist der Straftatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern erfüllt. Der 62-Jährige darüber hinaus sein Verhältnis als nahe Bezugsperson ausgenutzt und manipulativ auf das damals junge Mädchen eingewirkt. Das Opfer erlitt durch die Taten darüber hinaus psychische Folgen.

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Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der 62-Jährige kann innerhalb einer Woche Revision einlegen. Seine Reaktion auf das Urteil – Kopfschütteln, Fäuste ballen und Fassungslosigkeit – legt nahe, dass es dazu kommen könnte. Dann wird der Fall nochmals vom Bundesgerichtshof auf Verfahrensfehler geprüft.