„Wenn ich Whiskey-Cola nur rieche, kommen diese Bilder sofort wieder hoch.“ Diese Bilder. Im Kopf des 22-jährigen Konstanzers haben sie sich wie auf einer Festplatte unlöschbar eingebrannt. Darauf sieht er sich selbst als 15-jährigen Jugendlichen. Und einen deutlich älteren Mann, der ihn sexuell missbraucht. Streicheln, anfassen, küssen, Oralverkehr. Mal auf einem Bett, mal in einem Whirlpool. „Vorher hat er uns immer Drogen und eben Whiskey Cola gegeben“, erzählt er. Damit hat der Täter die Jugendlichen, wie es juristisch heißt, sexuell gefügig gemacht. Drei Opfer sind bekannt. Zwei haben sich entschlossen, den Täter anzuzeigen und auszusagen.

„Wir tragen die Sache ein Leben lang mit uns herum“

Gegenüber dem SÜDKURIER erzählen sie ihre ganz persönlichen Leidensgeschichten, möchten aber anonym bleiben. „Wir haben schon genug mit uns selbst zu tun“, begründen sie vor dem offenen und bewegenden Gespräch in einem Konstanzer Café. Gerade eben erst hat das Amtsgericht Konstanz den Täter schuldig gesprochen. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes und eines umfangreichen Geständnisses wurde die Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung ausgesetzt.

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„Das kann ich nicht verstehen“, sagt der 22-Jährige. „Dieser Kerl sitzt jetzt im Auto und fährt seelenruhig nach Hause, als sei nichts gewesen. Aber wir tragen die Sache ein Leben lang mit uns herum.“ Sie bestellen sich ein Bier. „Alkohol betäubt für eine gewisse Zeit“, sagen die beiden, die sich an diesem Tag zum ersten Mal sehen. Der eine ist Konstanzer, der andere Radolfzeller. Sie wussten zwar von der Existenz des anderen, aber zu einem Treffen sei es vorher nie gekommen. Ihre Fälle liegen ein paar Jahre auseinander. Der Täter war aber der gleiche.

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Seinen 15. Geburtstag verbrachte er mit guten Freunden im Herosé park. „Wir haben ein paar Bierle getrunken, etwas geraucht und sind schwimmen gegangen“, erinnert er sich. In dieser Phase seines Leben war er nach eigener Aussage „ein echter Rebell und in der Punkerszene beheimatet. Ich wollte nur das machen, was ich wollte“ – Betonung auf das zweite Ich.

Die Schule, er ging aufs Humboldt-Gymnasium, besuchte er nur noch sporadisch, er wurde wegen seiner schweren Akne gemobbt. An jenem Geburtstag gesellte sich ein Mann Ende 50 zu der Gruppe. „Er stellte sich als Sozialarbeiter vor, schenkte uns Alkohol, Drogen, Klamotten und Handys“, sagt der 22-Jährige. „Wir haben Adressen ausgetauscht und uns öfter getroffen. Er wollte sogar meine Eltern kennen lernen und hat sich denen als Jugendbeauftragter vorgestellt. Sie mochten ihn.“

Der Täter als Vaterfigur für die Opfer

Er unternahm mit den jungen Menschen Ausflüge, lud sie zu allerlei sozialen Aktivitäten ein. „Er war wie eine Vaterfigur“, erklären die Opfer das Verhältnis zu ihrem späteren Peiniger. Damit baute er sich das perfekte Schutzschild, um dahinter seine perfiden Phantasien ausleben zu können.

Er und sein bester Freund gingen damals im Haus des Täters in einer Gemeinde nahe Konstanz ein und aus. „Unsere Eltern hatten nichts dagegen“, sagt er. „Sie waren ganz entspannt.“ Nach rund drei Monaten, so genau wisse das der 22-Jährige nicht mehr, sei es zum ersten sexuellen Missbrauch gekommen. „Wie so oft gab er uns Whiskey-Cola und Drogen, bevor er begann.“

„Ich schäme mich, da ich offenbar erregt war“

Heute verspürt das Opfer, so paradox das klingen mag, eine große Scham, „denn ich war ja offenbar erregt, denn ich bekam eine Erektion. Ich weiß mittlerweile zwar, dass die Biologie bei Jugendlichen so funktioniert, dass bei zwei Berührungen sofort eine Erregung zu sehen ist. Aber trotzdem mache ich mir auch Vorwürfe, denn ich hatte ja auch jedes Mal einen Orgasmus“.

Iris Hannig, Psychotherapeutin bei der Opferhilfe Hamburg, erklärt: „Der Körper kann physisch erregt werden, ohne dass man psychisch angeregt ist. Wenn der Mann mechanisch stimuliert wird, kann es zu einer Erektion kommen.“ Also auch in Stress- oder Angstsituationen.

„Emotional gebe ich mir eine Mitschuld“

Der Täter missbrauchte den 22-Jährigen und seinen besten Freund zeitgleich im selben Raum. „Das hat mir größte Probleme bereitet. Die Freundschaft zwischen uns ist aus Scham gegenüber dem anderen kaputt gegangen.“ Rational sei er nicht Schuld, dass es zum Missbrauch gekommen sei, „doch emotional gebe ich mir eine Mitschuld. Ich kann daran nichts ändern“.

Auf den Unterarmen sind die Spuren der Selbstverletzung deutlich zu sehen.
Auf den Unterarmen sind die Spuren der Selbstverletzung deutlich zu sehen. | Bild: Schuler, Andreas

Der 22-Jährige berichtet von drei solchen Vorfällen. Er brach Kontakte zu seinen Freunden ab, zog sich immer weiter zurück. Mittlerweile besuchte er die Wessenberg-Schule, wollte mit seinen alten Schulkameraden nichts mehr zu tun haben. Er wurde schließlich magersüchtig. „Ich habe mich so alleine und hilflos gefühlt“, erzählt er.

Im April 2012 begab er sich für drei Monate in eine Klinik. Dort ritzte er sich unter der Dusche erstmals in den Unterarm. „Es tat gut, mich bluten zu sehen“, erklärt er seine damalige Gefühlswelt in drastischen Worten. „Die Schmerzen zeigen dir: Du bist noch da, du bist noch was wert.“

SÜDKURIER-Artikel animiert ihn zur Anzeige

Auch in der Klinik sei ihm nicht richtig geholfen geworden. Er versuchte es mit Verdrängung und Selbsttherapie. Doch immer mal wieder sind diese Gedanken und Bilder da, die er nicht verbannen kann. Als ob jemand einen Knopf drücken und damit einen Film starten würde. 2016 entschied er sich, den Täter anzuzeigen. „Meine Freundin zeigte mir einen SÜDKURIER-Artikel über einen weiteren sexuellen Missbrauch dieses Mannes“, erzählt er. „Da habe ich mir gedacht: Das geht gar nicht, jetzt musst du auch zur Polizei.“

Das war mitten im Abitur-Stress. „Es war sehr schlimm, der Polizei von den Vorkommnissen zu erzählen.“ Die Notwendigkeit erkannte er aber: „Er darf so etwas nie mehr irgendjemandem antun.“

Urvertrauen in den Lebenspartner nicht mehr da

Der Konstanzer möchte endlich eine Therapie beginnen, um das dunkle Kapitel abschließen zu können. „Ich habe zwischen 40 und 50 Therapeuten angerufen oder angeschrieben, aber überall nur Absagen erhalten“, berichtet er. „Die sagen, sie hätten keine Zeit, wenn sie hören, dass die Fälle bei mir schon so lange her sind. Da fehlen mir die Worte.“ Noch heute hat er Schwierigkeiten mit Beziehungen. „Das Urvertrauen in den Partner ist nicht mehr vorhanden“, erzählt er. „Sobald es einen Schritt weiter geht und ernst wird, ziehe ich mich zurück.“

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Sein Leidensgenosse Radolfzell hätte die Möglichkeit gehabt, sich einem Psychotherapeuten zu öffnen – schaffte das nach eigener Aussage aber nicht. „Ich habe innerlich zugemacht, konnte das einfach nicht“, erinnert er sich. Er wurde laut seiner Schilderungen zum ersten Mal bereits mit elf Jahren sexuell missbraucht – vom Freund der Mutter. Seine kleine Schwester ebenfalls.

Wut auf den Mann, der die Kindheit zerstört hat

„Der Kerl wohnt mittlerweile mit seiner thailändischen Frau und dem gemeinsamen Kind zusammen“, berichtet er. Seine Lippen zittern während dieser Worte, die er nur langsam aussprechen kann – zu groß sei die Wut auf den Mann, der seine Kindheit zerstört habe. „Ich wurde aggressiv, habe sofort zugeschlagen“, sagt er.

Schließlich traf er den Mann, der auch den Konstanzer Jugendlichen missbraucht hat. Er erlebt die selben Dinge wie der gleichaltrige junge Mann und Leidensgenosse, der heute im Wessenberg Café ihm gegenüber sitzt und das gleiche schlimme Schicksal mit ihm teilt. Der Radolfzeller war als Zeuge, nicht als Opfer geladen zum Prozess.

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„Als ich den Brief vom Gericht gelesen habe, ging mir brutal die Pumpe“, erzählt er. „Es kam alles wieder hoch. Ich habe mir eine Flasche Wodka reingehauen und mich im Vollrausch geritzt.“ Auch er verstehe nicht, wieso der Täter nichts in Gefängnis müsse. „Wir haben viel Lebensqualität für immer verloren. Warum darf er ganz normal weiterleben?“

„Ich würde gerne meine Schuldgefühle loswerden“

Nun sitzen die beiden traumatisierten jungen Männer im Biergarten und sinnieren, wie ihr Leben weitergehen soll. „Ich möchte gerne eine Freundin haben“, sagt der Radolfzeller. „Aber niemand will mich. Ich bin nicht leicht zu nehmen, aber ein netter Mensch. Ich würde so gerne meine Schuldgefühle loswerden.“

Der Konstanzer hat eine Freundin und studiert. „Ich hätte gerne ein geregeltes Leben mit viel Sport, Gesundheit und einer eigenen Familie. Ja, auch Kinder“, sagt er. „Vielleicht möchte ich Kinder adoptieren. Es gibt so viele Kinder mit Problemen, die Hilfe und ein nettes Elternhaus benötigen.“