Als Petra Illgen neulich einen SÜDKURIER-Artikel von 2019 las, wollte sie ihren Augen kaum glauben. Er handelte von einem Mann, der vom Amtsgericht wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen zwar schuldig gesprochen wurde, wegen einer Herzerkrankung und seines Geständnisses jedoch nur eine zweijährige Bewährungsstrafe erhielt.
„Die Opfer leiden für immer“, sagt sie. „Doch der Täter ist fein raus und lebt normal weiter. Da verstehe ich nicht.“ Ihre Aussage bekommt umso mehr Gewicht, da sie selbst Opfer jahrelangen sexuellen Missbrauchs war – ihre Peiniger wurden nach ihren Angaben niemals für die Taten belangt.
Petra Illgen ist 55 Jahre alt. Ihr Martyrium liegt Jahrzehnte zurück – die gebürtige Konstanzerin wurde sowohl in Argentinien, wo die Familie aufgrund der Arbeit des Vaters ein paar Jahre gelebt hatte, als auch später in Spaichingen sexuell missbraucht.
Erzieher und Vermieter vergingen sich an dem Kleinkind, später an dem jungen Mädchen. „Damals war ich überzeugt, dass ich niemandem etwas sagen darf, da ich Schuldgefühle hatte und meine Vergewaltiger angesehene Personen waren“, blickt sie kopfschüttelnd zurück.
Lange war ihr nicht klar, was da mit ihr passierte – vor allem während der Zeit in Argentinien, also in den ersten Lebensjahren. Erst aufgrund einer speziellen Psychotherapie kam sie dem auf die Spur, was ihr in früher Kindheit angetan wurde – und was sie stets befürchtet hatte.
Sie erhielt die Diagnose dissoziative Identitätsstörung. Die tritt bei Personen auf, die in der Kindheit einem überwältigenden Trauma ausgesetzt waren. Auch Soldaten, die in Kriegsgebieten Einsatz hatten und traumatisierende Dinge erlebten, leiden oft darunter.
Ein bewegender Satz
Petra Illgen sagt einen bewegenden Satz: „Man sollte froh sein, wenn man mit 16 Jahren und nicht mit fünf Jahren vergewaltigt wird – natürlich ist es am besten, niemals vergewaltigt zu werden. Je später aber, desto klarer die Erinnerungen und desto eher kann dir geholfen werden.“
Wegen ihrer dissoziativen Identitätsstörung sei sie mehrmals in Dresden in einer Spezialklinik gewesen – zuletzt im Frühjahr. Bevor sie sich Hilfe in Sachsen holte, passierte oft etwas Typisches für Patienten mit dieser Diagnose: „Ich trete von jetzt auf gleich komplett weg“, beschreibt sie das, was sie als Anfall bezeichnet. „Ich habe auf einmal den Zustand eines Kleinkindes, völlig hilflos. Das ist zu vergleichen mit einem Tier, das sich zum Schutz totstellt.“ Nach wie vor hat sie solche Anfälle – doch nicht mehr so regelmäßig wie früher.
Kinder lernen, Informationen und Erfahrungen in eine persönliche Identität zu integrieren. Wenn ein Kind sexuell und körperlich misshandelt wird in dieser Zeit, hat dies in der Regel dauerhafte Auswirkungen auf die Fähigkeit, eine einzige vereinigte Identität zu entwickeln – vor allem wenn die missbrauchenden Personen Eltern oder Betreuer sind, wie die Experten sagen. Missbrauchte Kinder trennen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühle ihrer Lebenserfahrung voneinander.
Flucht in den eigenen Kopf
Im Laufe der Zeit können solche Kinder immer mehr die Fähigkeit entwickeln, dem Missbrauch zu entfliehen, indem sie zum eigenen Schutz geistig völlig wegtreten – wie von Petra Illgen beschrieben. Sie lösen sich von ihrer Realumgebung, in der sie sich befinden, oder ziehen sich sprichwörtlich in ihren eigenen Kopf zurück.
Eine andere Identität kann durch jede Phase oder jedes traumatische Ereignis hervorgerufen werden. „Ich bin nicht in der Lage, das zu kontrollieren, dass passiert einfach“, sagt die 55-Jährige. „Ich spüre in diesem Zustand, der auch mal einen Tag dauern kann, keine Schmerzen.“
Aufgrund ihrer Erfahrungen hat sie das Gerichtsurteil von 2019 auch persönlich so mitgenommen. „Was aus den Kindern wird, auch nach vielen Jahren, kann sich kein Mensch vorstellen“, erzählt sie. „Ich sehe es an mir, dass diese Diagnose schwer zu ertragen ist.“ Sie sei trotz allem ein positiver und fröhlicher Mensch, lasse sich nichts anmerken. „Aber diese Nachrichten beschäftigen mich und machen mir Angst“.
Irgendwann fing sie an, sich selbst zu verletzten und ritzte ihre Arme. So fühlte sie Schmerzen und gab ihrem Dasein ein klein wenig mehr Sinn, wie sie es ausdrückt. Trotzdem fühlte sie sich in ihrer Haut unwohl – im wahrsten Sinne des Wortes.
„Also begann ich als Teenager mit den Tätowierungen“, sagt sie und streicht sich wie zur Bestätigung über Arme, Hals und Hände. Ihr Körper inklusive Gesicht ist übersät mit gestochenen Sprüchen, Zitaten, Figuren, Blumen oder fantasievollen Lebewesen. „Ich wollte, dass man meine hässliche Haut nicht mehr sehen kann und einfach die ganze Sache überstechen.“
Hat Petra Illgen ihren Peinigern mittlerweile verziehen? „Verzeihen?“, stellt sie die Gegenfrage. „Wenn ich das schon höre. Das kann ich nicht, und das werde ich nie können.“ Dafür musste sie in ihrem Leben zu sehr leiden. Geradezu empört reagiert sie auf gesellschaftliche Forderungen, dass Sexualverbrecher auf Kosten des Staates therapiert werden müssten.
„Da kann ich nur sarkastisch lachen. Opfer müssen um jede Hilfe kämpfen, Täter bekommen sie einfach so. Wieso kann man Menschen, die Kinder systematisch vergewaltigen und missbrauchen, nicht einfach für immer wegsperren?“ Opfer hätten eine lebenslängliche Strafe erhalten, da sie bis zum Tod leiden würden, „aber die Täter werden vom Staat rehabilitiert? Ne, das kann ich nicht verstehen“.
Als sie in den 90er-Jahren in einer Konstanzer Pizzeria als Servicekraft arbeitete, war ein Mann regelmäßig Gast, der später wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurde – und heute noch im Stadtgebiet unterwegs ist.
„Wir hätten uns niemals vorstellen können, dass er dazu in der Lage ist“, sagt sie heute. „Das ist für Kinder das Schlimmste, wenn Vertrauenspersonen Dinge mit dir machen, die dein Weltbild ins Wanken bringen.“
2013 hat die Bundesregierung den „Fonds Sexueller Missbrauch“ für den familiären Bereich gestartet. Opfern, die in Kindheit oder Jugend sexuellen Missbrauch erlitten haben, soll finanziell geholfen werden. Pro Person gibt‘s maximal 10.000 Euro.
„Ich dachte: toll, mal ein Urlaub oder eine neue Waschmaschine. Doch es ging alles für Therapien drauf, die die Kasse nicht bezahlen.“