Wie wichtig es ist, Kindern zu signalisieren, dass sie über alles reden können, hat sich kürzlich in Überlingen gezeigt. Da schilderte ein Kind fünf Jahre zurückliegende Erlebnisse. „Schwerer sexueller Kindesmissbrauch“ heißt das, was dem Verdächtigen vorgeworfen wird, als Straftatbestand. Nun wird gegen den heute 20-Jährigen ermittelt, der damals als Praktikant in einem Überlinger Kindergarten und außerdem als Babysitter des betroffenen Kindes tätig war. Der Tatverdächtige wurde am 10. Juni vorläufig festgenommen und sitzt seitdem in Untersuchungshaft.
„Er hat unsere Einrichtung noch bis vor Kurzem ab und an besucht“, erklärt Christoph Fasel, der als Medienprofi aktuell als Pressesprecher des betroffenen Kindergartens fungiert. Der heute 20-Jährige habe sich „ganz brutal ins Vertrauen geschlichen“, formuliert er. Er sei Teil des Systems gewesen, wurde als höflich, nett und offen wahrgenommen und bereits vor seiner Mitarbeit als Schülerpraktikant bis hin zum polizeilichen Führungszeugnis überprüft. Umso größer sei der Schock gewesen, als sie im Juni von der Kriminalpolizei informiert wurden: „Es herrschte Empörung und Entsetzen, dass ausgerechnet dieser junge Mann so etwas gemacht hat.“
Wieso war der Jugendliche alleine mit dem Kind? Das ist bei Praktikanten nicht vorgesehen
Wieso der Jugendliche, der mit 15 Jahren sein Praktikum im Haus antrat, zum Tatzeitpunkt überhaupt alleine mit dem Kind war, werde derzeit intern geklärt, erklärt Fasel: „Wir haben Prinzipien, die sich seit mehr als fünf Jahrzehnten bewähren. Dazu gehört auch, dass wir das Vier-Augen-Prinzip verfolgen, also ein Praktikant eigentlich nie mit den Kindern alleine ist.“ In den mehr als 50 Jahren des Bestehens der Einrichtung sei noch nie etwas Vergleichbares geschehen.
Am Donnerstag fand ein Elternabend mit den Elternvertretern aus allen Gruppen statt. Seitens der Elternvertreter seien volle Unterstützung und enge Zusammenarbeit im Hinblick auf die Aufarbeitung signalisiert worden. „Wir sind erleichtert, dass wir mit dieser Solidarität und Transparenz gegenüber der gesamten Elternschaft in den kommenden Prozess der Aufarbeitung einsteigen können“, erklärt Fasel im Namen der Einrichtung.
Dem Elternabend war ein Elternbrief vorangegangen. Die Ermittlungen liefen seit Juni und hatten dementsprechend zu Nachfragen von Elternseite geführt. Der Elternbrief wurde daher in Absprache mit der Polizei verfasst, bestimmte persönliche Details über die Betroffenen gezielt nicht kommuniziert.
Ob weitere Kinder betroffen waren? Das ist Gegenstand der Ermittlungen
„Gerade in einem solchen Fall müssen wir noch genauer darauf achten, dass die Persönlichkeitsrechte gewahrt bleiben“, lautet die Aussage der Polizeipressestelle Ravensburg. „Bisher ist uns bekannt, dass es sich um ein Kind handelt. Ob weitere Kinder betroffen waren, ist unter anderem Gegenstand der Ermittlungen“, erläutert ein Sprecher der Polizei. Der Elternbrief des Kindergartens enthält deshalb auch einen direkten Polizeikontakt, an den sich Eltern wenden können.
Panik zu schüren sei jedenfalls nicht im Interesse der Polizei: „Man muss in diesem Kontext betonen, dass auch, wenn Fälle von Kindesmissbrauch in den Medien derzeit sehr präsent sind, sie eine absolute Seltenheit sind.“ Das tröste nun selbstverständlich niemanden, der betroffen sei. Gleichzeitig sei es wichtig, diesen Umstand generell zu erwähnen, und: „Der Täter ist eben zumeist nicht der böse Mann, der irgendwo von draußen kommt. Die meisten Missbrauchsfälle geschehen im nächsten Umfeld.“
Als Vertreter der Polizei stehe für sie Prävention im Vordergrund: „Wir arbeiten daran, dass so etwas erst gar nicht passiert.“ Dabei sei es schwierig, potenzielle Täter zu erreichen. Im Bereich Kindesmissbrauch seien die Angebote daher mehrheitlich an Eltern gerichtet. Während für Frauen und Jugendliche auch im Bodenseekreis eigene Präventionskurse angeboten werden, verweist die Polizei im Bereich Kindesmissbrauch inzwischen weiter an externe Träger und Beratungsstellen.
Die schwierige Aufgabe der Eltern, die Balance zwischen „blindem Vertrauen“ und „Helikoptern“ zu finden
Birgit Zauner aus Salem kommentiert als Außenstehende, zweifache Mutter und ehemalige Mitarbeiterin des Pestalozzi-Kinderdorfs Wahlwies die Situation: „Gerade dort in der Beziehungspädagogik war Prävention sehr wichtig. Wir haben immer gut aufgepasst, dass die gewollte Nähe nicht ausgenutzt wird.“ Auch für ihr Privatleben habe sie daraus gelernt. Es sei wichtig, als Eltern die Balance zwischen „blindem Vertrauen“ und „Helikoptern“ zu finden und natürlich, seinem Kind zu signalisieren, dass es immer Rückhalt habe. Und, betont sie: „Kinder stark machen. Das ist die beste Prävention. Sie haben da eigentlich einen guten Instinkt, wenn sie Werkzeuge zur Abgrenzung bekommen.“
Was können Eltern ganz konkret mit ihren Kindern üben, worauf können sie achten? Dazu gibt Iris Gerster, Leiterin der Beratungsstelle Morgenrot, Auskunft: „In diesem speziellen Fall, in dem die Person und Kindergartengruppe bekannt ist, ist es sicherlich gut, wenn Eltern ihrem Kind kindgerecht offene Fragen stellen.“ Dabei sei es wichtig, keinerlei Suggestivfragen zu stellen und dem Kind nicht die Worte sozusagen in den Mund zu legen. „Sie sollten beispielsweise fragen: Was habt ihr gespielt? Und nicht: Hat er dich da auch angefasst?“
„Ich fände es gut, wenn die Präventionsprinzipien bereits im Kindergarten vermittelt würden“Iris Gerster, Leiterin der Beratungsstelle Morgenrot
Wenn ein Kind dann tatsächlich einen Übergriff schildere, sich öffne, sei es wichtig, es nicht unter Druck zu setzen. „Man sollte nicht nachbohren, sondern Offenheit signalisieren. Etwa sagen: Ich bin da, wenn du etwas erzählen magst.“ Generell sei es wichtig, Kindern die passenden Begriffe für Körperteile beizubringen, speziell auch für den Genitalbereich. Eine klare Sprache helfe nicht nur, den eigenen Körper kennenzulernen, sondern auch, Übergriffe zu benennen. „Ich fände es gut, wenn die Präventionsprinzipien bereits im Kindergarten vermittelt würden“, ergänzt sie.

Zwischen guten und schlechten Geheimnissen zu unterscheiden
Die Grundsätze, die Kinder lernen sollten, seien etwa, dass es okay sei, Nein zu sagen. Es werde über Grenzen gesprochen, besonders die eigenen. Auch werde gelernt, zwischen guten und schlechten Geheimnissen zu unterscheiden, zwischen angenehmen und unangenehmen Berührungen: „Es ist wichtig, die Gefühle und Wahrnehmung des Kindes ernstzunehmen und es zu ermutigen, Fragen zu stellen, egal, worum es geht.“ Auch sollten Eltern ihrem Kind vermitteln, dass es okay sei, sich zu wehren, auch wenn ein anderer Erwachsener ihm verbiete, „zu petzen“. Sowieso laute ein ganz wichtiger Grundsatz: „Hilfe holen ist nicht Petzen“.