Anja Menner kennt die Abgründe die sich auftun, wenn sie mit ihren jungen Klienten spricht. In dem gemütlichen Raum steht ein Puppenhaus vor den sonnengelben Vorhängen, auf den Regalen sitzen Kuscheltiere, in der Ecke steht eine Ritterburg. Die Kinder, die hierher kommen, sollen sich wohlfühlen. So gut es eben geht nach dem, was sie durchgemacht haben.

Menner ist Sozialpädagogin bei der Hilfsorganisation Wendepunkt in Freiburg und arbeitet mit Opfern von sexuellem Missbrauch. Mit sehr jungen Opfern. Die Kleinsten sind gerade einmal fünf oder sechs Jahre alt. Wenn sie noch jünger sind, werden in der Regel Heilpädagogen zugezogen. Menner arbeitet mit den Kindern und Jugendlichen zusammen. Ihr Ziel: sie zu stärken für die Zukunft. Und vor allen Dingen: ihnen das Gefühl der Schuld nehmen.

Staufener Fall macht betroffen

Ob ihr das auch im Fall des damals neunjährigen Jungen gelungen ist, dem in Staufen von seiner Mutter und deren pädophilen und einschlägig vorbestraften Freund sexueller Gewalt angetan wurde und pädophilen Männern über das Darknet verkauft wurde. „Der Fall hat mich schon sehr erschüttert“, gesteht Menner ein. Sie macht ihre Arbeit gerne, aber „es gibt natürlich Fälle, die stärker berühren“, erklärt sie.

Kuscheltiere liegen auf einem Regal im Beratungszimmer: Die Kinder, die hierher kommen, sollen sich wohlfühlen.
Kuscheltiere liegen auf einem Regal im Beratungszimmer: Die Kinder, die hierher kommen, sollen sich wohlfühlen. | Bild: Moll, Mirjam

Sie hat eine Schulung besucht, darüber, wie Pädophile sich im Darknet austauschen. „Das ist ja aufgebaut wie Amazon, man kann die Leute sogar bewerten“, erzählt sie. Aus ihrer Stimme klingt eine Mischung aus Ungläubigkeit und Empörung. Das Darknet, das ist jener versteckte Teil des Internets, in dem viele der pädophilen Foren operieren, weil sich die Täter dort noch besser tarnen können.

Als Mutter mit missbrauchten Kindern arbeiten

Mit den Tätern arbeiten, das könnte Menner nicht. Sie hat selbst Kinder und reflektiert deshalb immer wieder, ob sie ihrer Arbeit noch machen kann, ohne dass die Erziehung davon beeinflusst wird. Gab es schon einmal einen Moment, in dem sie daran gezweifelt hat? „Nein“, sagt Menner mit Überzeugung.

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Aber „das ist Teil des Jobs, das trennen zu können“, betont sie. „Das geht nur, wenn man Grenzen setzt.“ Grenzen setzen – in einem Job, in dem sie sich ständig mit Grenzübertretungen auseinandersetzt. Das klingt schwierig. Aber sie hat Erfahrung. Menner arbeitet seit 12 Jahren mit missbrauchten Kindern. Jahre, in denen sie viele schwer traumatisierte Kinder bei sich hatte.

Wichtiger Austausch

Mit regelmäßigen Gesprächen versucht sie sich selbst zu schützen: Jede Woche setzt sich das Team von Wendepunkt zusammen, jeder Fall kommt auf den Tisch. Ein Mal pro Monat geht die Sozialpädagogin zur Supervision, kann sich also selbst einem Psychologen anvertrauen. „Dies eigene Psychohygiene ist enorm wichtig“, betont sie. Dieses „Abladen“, wie sie es nennt, muss manchmal auch unmittelbar sein, nachdem sie mit einem Kind gearbeitet hat.

Im Beratungszimmer bei Wendepunkt in Freiburg sollen sich die Kinder wohlfühlen: Eine Burg lädt zum Spielen ein.
Im Beratungszimmer bei Wendepunkt in Freiburg sollen sich die Kinder wohlfühlen: Eine Burg lädt zum Spielen ein. | Bild: Moll, Mirjam

Im Jahr führt Wendepunkt etwa 600 Gespräche, pro Jahr rechnet Menner mit 200 Fällen. Die Beratung dauert unterschiedlich lange – manchmal ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch länger. Manche Kinder könnten sich schnell öffnen, andere nicht.

Erschütternde Zahlen

Die Kinder kommen in der Regel nicht alleine, oft sind Eltern, Betreuer oder Lehrer dabei – je nachdem, durch wen der Missbrauch ergangen ist. 50 Prozent der Taten werden im familiären Umfeld begangen, in 90 Prozent der Fälle kennen sich Täter und Opfer. Das sind die nackten Zahlen, die immer wieder in Statistiken auftauchen.

Wie das möglich ist? „Missbrauch ist immer noch ein Tabuthema in unserer Gesellschaft“, sagt Menner. Egal ob Junge oder Mädchen, die Erfahrung sexueller Gewalt ist für jedes Kind „unglaublich schambehaftet“, erklärt die Sozialpädagogin.

Vertrauen wird missbraucht

Der Missbrauch geschieht oft durch eine Vertrauensperson des Kindes. In dieser Beziehung werden langsam sexuelle Praktiken eingeführt, den Kindern reden die Täter ein, dass das alles normal sei und das jeder schön fände.

Menner gibt den Kindern Zeit, sie setzt sie nicht unter Druck. „Es ist völlig in Ordnung, wenn ein Kind eine gewisse Zeit braucht, bis es sich öffnen kann“, sagt sie. Und: Menner will vermeiden, dass die Kinder und Jugendlichen das Trauma der sexuellen Gewalt noch einmal durchleben müssen.

Auch mit Puppen arbeitet die Sozialpädagogin Anja Menner bei Wendepunkt, eine Organisation, die mit missbrauchten Kindern arbeitet.
Auch mit Puppen arbeitet die Sozialpädagogin Anja Menner bei Wendepunkt, eine Organisation, die mit missbrauchten Kindern arbeitet. | Bild: Moll, Mirjam

Viele haben Angst, dass sie alles noch einmal genau erzählen müssen. Müssen sie nicht, betont Menner. Ihr geht es vor allem um die Auswirkungen und um die Zukunft der Betroffenen: „Wie oft und wo genau der Missbrauch stattfand, spielt für die Therapie keine große Rolle“, erklärt sie.

Besonders Männer tun sich schwer

„Aus der Schwere der Tat lässt sich nicht die Auswirkung folgern“, betont Menner. Jeder reagiert anders auf den erlebten Missbrauch. Zwei Faktoren spielen eine große Rolle – das Umfeld und die Zeit: Fanden die Kinder Halt in ihrem Umfeld? Konnten sie sich schnell jemandem anvertrauen? Oder trugen sie die Last jahrelang mit sich herum, vielleicht sogar bis ins Erwachsenenleben?

Besonders Jungen und Männer tun sich schwer, darüber zu sprechen. Missbrauch wird nach wie vor eher Mädchen und Frauen zugeordnet. Wenn es eine Täterin war, ist die Scham oft noch größer. Und für die betroffenen männlichen Klienten kommt die Angst hinzu, dass ihnen niemand glauben würde, Opfer einer Frau geworden zu sein. Und sie schämen sich oft selbst dafür.

Falsche Bilder

Jungs müssen doch stark sein, Jungs heulen nicht. All diese Bilder sind oft noch in den Köpfen der Menschen. Jungs denken dann, sie sind schwach, wenn sie sich nicht wehren konnten. Und so geht der Missbrauch manchmal Jahre. „Weil Jungen noch weniger als Mädchen die Erlaubnis der Gesellschaft haben, darüber zu sprechen.“ Sie nennt ein Beispiel: „Warum gibt es Selbstverteidigungskurse nur für Mädchen?“ Slogans wie „Stärke Mädchen, coole Jungs“ festigten das vorgeformte Bild der Gesellschaft.

Und immer wieder kommt die Frage nach der Schuld. „Schuld hat immer der Erwachsene, der, der die Tat initiiert“, macht Menner unmissverständlich klar. Auch, wenn sie Tricks anwenden. Sie spielen mit der Psychologie der Kinder. „Ein Geheimnis zu haben, ist der erste Ehrenkodex unter Kindern“, erklärt die Sozialpädagogin. Geheimnisse verrät man nicht. Das nutzen viele Täter aus.

Gute und schlechte Geheimnisse

Sie erlauben den Kindern einerseits Dinge, die sie zu Hause nicht dürfen – Videospiele spielen, Fernsehen schauen, Süßigkeiten essen bis zum Überdruss. Und der Missbrauch, das ist dann eben auch ein Geheimnis. „Deshalb unterscheiden wir zwischen guten und schlechten Geheimnissen und ermutigen die Kinder, dass sie über schlechte Geheimnisse sprechen dürfen“, sagt Menner. Schlechte, das sind jene, die sie traurig machen, die wehtun.

„Kinder dürfen Grenzen setzen, gerade wenn es um Berührungen geht“, betont Menner. Das ist ja auch klar. Aber viele Kinder haben Schwierigkeiten, sich in einer Situation, in der sich der Erwachsene streng und dominant gibt, zu wehren. Das könne man mit den Kindern üben. Präventionsarbeit ist ihr wichtig – auch wenn es für die Kinder, die zu ihr kommen, schon zu spät ist.

Sieben Versuche, bis ein Kind vertraut

Sieben Anläufe braucht ein Kind im Durchschnitt, bis es einen Erwachsenen findet, das ihm zuhört und ihm glaubt, sagt die Sozialpädagogin. Das können versteckte Hinweise sein, die von Betreuern oder Eltern aber zunächst übersehen werden. Ist diese Hürde einmal genommen, sieht Menner aber immer die Chance auf ein normales Leben. „Wichtig ist, darüber zu sprechen und zu akzeptieren, dass der Missbrauch Teil der eigenen Geschichte ist“, glaubt die Expertin.

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Manche Opfer verdrängen das Erlebte, manchmal jahrelang. Sie können unter massiven Spätfolgen leiden. Manche seien erst nach Jahrzehnten bereit, über ihre Kindheitstraumata zu sprechen. „Aber, dass das Leben verpfuscht ist, wenn man missbraucht wurde, das stimmt einfach nicht.“

Anzeigen – Ja oder Nein?

Oft wird sie gefragt, ob die Tat zur Anzeige gebracht werden soll. Eine Empfehlung gibt Menner nie. Sie klärt auf – darüber, was die Konsequenzen sind, wenn man anzeigt oder nicht. Bei der Kripo muss jedes Detail auf den Tisch, ist der Missbrauch gerade erst geschehen, folgt eine Intimuntersuchung, vor Gericht muss die Aussage wiederholt werden, wenn auch häufig die Konfrontation mit dem Angeklagten vermieden wird.

Und, das sagt Menner mit einer gewissen Resignation: „Es ist nicht automatisch so, dass die Täter in Haft kommen.“ Die Enttäuschung ihrer Klienten, die habe sie viel zu oft erlebt. Für eine Anzeige spreche, dass die Opfer – dieses Wort mag Menner gar nicht – sich wehren. Und dass derjenige, der ihnen sexuelle Gewalt angetan hat, sich rechtfertigen muss.

Menner bewundert jeden, der sich traut, eine Aussage zu machen, sagt sie. Die Details, die vor Gericht herauskommen, will sie gar nicht wissen: „Eine gewisse Naivität will ich mir bewahren.“