Die schiere Menge ist kaum zu fassen. In einem Fall gingen es um 30 Terabyte. 30 Terabyte, das entspricht etwa 15 000 Stunden HD-Videoqualität oder sechs Millionen Fotos (eine 12-Megapixel-Kamera zugrundelegend). Die Dateien enthielten kinderpornografisches Material – Bilder und Videos. Jörg Biehler hat sie alle gesehen.

Das muss er, denn der Kripobeamte ist der Kriminalinspektion I bei der Freiburger Dienststelle zugeteilt. Er ist zuständig für Sexualdelikte bei Minderjährigen. Seinen Job kann nicht jeder machen. Biehler selbst sagt, er habe den Posten zunächst auch nicht übernehmen wollen, aber sei dann so reingerutscht. Jetzt steckt er ganz tief drin. Deshalb will er nicht auf Fotos zu sehen sein. Als Ermittler bleibt er lieber unerkannt.

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Europaweiter Ring Pädokrimineller gesprengt

Biehler hat in dem vor zwei Jahren bekannt gewordenen Staufener Missbrauchsfall ermittelt und dazu beigetragen, dass ein ganzer Ring pädokrimineller Männer gesprengt werden konnte – europaweit. Teilweise laufen die Ermittlungen im Ausland noch, sie reichen weit in den Osten Europas.

Genauere Informationen liegen dieser Redaktion vor, dürfen aber zum Schutz der laufenden Verfahren nicht publik werden. Für Biehler sind Erfolge wie diese die Motivation für seine schwierige Aufgabe. In der Regel muss er pro Fall drei bis fünf Terabyte an Daten sichten. Das kann ihm niemand abnehmen.

Wie die Ermittlungsarbeit den Menschen verändert

„Es macht etwas mit einem“, sagt Biehler ganz ohne Umschweife. Er hat selbst Kinder, eines davon war damals so alt wie der Junge, der im Zentrum seines ersten Falls stand. Biehler begann sich in dieser Zeit selbst zu hinterfragen: Wie wirkt es auf andere, wenn er sein eigenes Kind in den Arm nimmt und herzt?

Der Fall ging nicht nur ihm an die Nieren. Die Kripo Freiburg ermittelte unter Hochdruck, teils mit aufgestocktem Personal, um nicht nur Christian L., den inzwischen verurteilten Haupttäter des Falls, hinter Gitter zu bringen, sondern auch jene Männer, die ihm Geld gezahlt hatten, um sich an dem Jungen vergehen zu können.

Videos für Mitarbeiter unerträglich

Schon die Sichtung des Materials überstieg das, was mancher Mitarbeiter in der Kriminalinspektion auszuhalten vermochte. „Unsere Schreibkräfte kamen grün um die Nase heraus“, erinnert sich Biehler an die Stunden, in denen er den Wortlaut der sichergestellten Videos verschriften musste.

Schließlich schaffte die Kripo ein Spracherkennungssystem an, damit Biehler selbst diktieren konnte und nicht mehrere Beamte mit dem belastenden Inhalt umgehen mussten.

Misstrauen wächst

„Zwischenmenschlich verändert das vieles“, sagt Biehler kryptisch. Was er meint, ist wohl, dass eine gewisse Naivität verloren geht. „Man traut es eigentlich jedem zu“, erklärt er schließlich. „Das ist die Erkenntnis von Staufen.“

Staufen im Breisgau – in dem idyllischen Städtchen kam es zum Missbrauch mehrerer Kinder.
Staufen im Breisgau – in dem idyllischen Städtchen kam es zum Missbrauch mehrerer Kinder. | Bild: Moll, Mirjam

In dem Fall passte der Tatvorwurf vermeintlich zu dem Menschen, der da auf der Anklagebank saß. Der Außenseiter mit dem stechenden Blick, den dunklen Augen, wirkte wie das personifizierte Böse – ihm trauten viele Prozessbegleiter unmittelbar zu, was er selbst schon zugegeben hatte.

Missbrauch in Pfadfindergruppe

Seit dem vergangenen Jahr ermittelt Biehler in dem unter Beamten als Staufen II bezeichneten Fall um einen ehemaligen Pfadfinderbetreuer, der mehrere Jungen sexuell missbraucht haben soll.

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Menschliche Monster

Biehler fragt sich, wer das größere Monster ist: Der Mann, der das Kind seiner Partnerin übers Darknet als Sexobjekt an Pädophile verkaufte oder der Mann, der Beziehungen methodisch zu seinen Opfern aufbaute, sich zu einer Vaterfigur stilisierte, um dann das Vertrauen der Kinder auf grausame Weise zu missbrauchen. Der Ermittler darf sich kein Urteil erlauben. Er kann nur Beweise sammeln.

Doch Biehlers Erfahrung hat gezeigt, dass kein Berufstand und keine gesellschaftliche Schicht besteht, in der es keine Pädophile gibt – selbst seinen eigenen Berufsstand, das betont Biehler, kann man da nicht ausnehmen. Das Bild des perspektivlosen Taugenichts mit der verkorksten Kindheit passte bei Christian L., dem Mann mit dem dämonischen Blick.

Vermeintliche Helden

Aber in vielen anderen Fällen passt es nicht. Der Bundeswehrsoldat, der in seiner Freizeit Kinder missbraucht ist nur ein Beispiel. Auch betuchte Unternehmer gibt es, die heimlich ganze Orgien mit Kindern organisieren. Treffen im Untergrund, zu denen die Teilnehmer Kinder mitbringen, sie gegenseitig austauschen zum Missbrauch, tagelang. Das alles gibt es. Nicht irgendwo, sondern in Europa.

„Unsere Kompetenz endet an der Landesgrenze“
Jörg Biehler, Ermittler

Häufig führen die Ermittlungen ins Ausland. Entweder, weil die Server irgendwo in Asien stehen, auf denen die Bilder und Videos gespeichert wurden. Oder, weil es Hinweise auf die mutmaßlichen Täter gibt, die sich außerhalb der Bundesgrenzen aufhalten. „Unsere Kompetenz endet an der Landesgrenze“, sagt Biehler etwas konsterniert. Aber: „Bei Staufen hat es sehr gut funktioniert“, mit anderen europäischen Ermittlern zusammenzuarbeiten, betont er.

Immer neue Fälle

Daniel Müller ist Biehlers Vorgesetzter. Er betont immer wieder, dass er seine Leute nicht zwingen kann, den Job zu machen. Und wenn jemand aussteigen will, dann muss er diesem Wunsch Folge leisten, erklärt er. Biehler macht seit dem ersten Staufener Fall nichts anderes mehr. Er bekomme „permanent“ Fälle sexuellen Missbrauchs auf den Schreibtisch, sagt sein Chef. Er versucht, die Details zu finden, die die Täter verraten, die Fehler zu entdecken, die sie vielleicht irgendwann einmal machen.

Kinder als Kronzeugen

Die wichtigsten Helfer bei den Ermittlungen aber sind meist die Kinder: Die Vernehmung soll so kindgerecht wie möglich sein. Und möglichst nur ein Mal, um das Trauma der Kinder nicht noch zu vergrößern. Umso intensiver müssen sich die Ermittler vorbereiten, betont Müller.

Der Raum für Kinderbefragungen soll nicht wie ein Vernehmungsraum aussehen.
Der Raum für Kinderbefragungen soll nicht wie ein Vernehmungsraum aussehen. | Bild: Moll, Mirjam

Es gibt einen speziellen Raum, in dem die Kinder zu ihren Erlebnissen befragt werden. Ein normaler, nüchterner Vernehmungsraum, das ginge nicht. Die Eltern dürfen dabei sein, sofern sie nicht tatverdächtig sind. Biehler fällt es nicht leicht, die Kinder dazu zu bewegen, alles noch einmal so genau wie möglich zu erzählen. Aber, sagt er, „oft sind die Kinder erleichtert, wenn es raus ist.“ Das erlebe er immer wieder. Als falle eine Last von ihnen ab, jetzt, wo Erwachsene davon wissen.

In einem Nebenraum können Beamte dem Gespräch folgen und Instruktionen geben.
In einem Nebenraum können Beamte dem Gespräch folgen und Instruktionen geben. | Bild: Moll, Mirjam

Keine Opfer

Biehler ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen, wie im zweiten Staufener Fall, sich nicht wie Opfer fühlen. „Das ist schon heftig, wenn starke Jungs, wie sie heutzutage eben so sind, plötzlich vor dir sitzen und weinen“, sagt er. Und er muss nach den unangenehmen Details fragen: Denn strafrechtlich gibt es einen Unterschied zwischen sexuellem Missbrauch und schwerem sexuellen Missbrauch.

Der Raum, der nicht wie ein klassisches Vernehmungszimmer aussieht, soll es den Betroffenen leichter machen. Versteckte Kameras zeichnen ...
Der Raum, der nicht wie ein klassisches Vernehmungszimmer aussieht, soll es den Betroffenen leichter machen. Versteckte Kameras zeichnen die Kinder auf. | Bild: Moll, Mirjam

Mädchen hätten es leichter, darüber zu reden, sagt Biehler. Bei Jungs sei es häufig schwieriger. Im Staufener Fall sei es so gewesen, dass der Betroffene, der die Ermittlungen ins Rollen brachte, erst durch die Berichterstattung der Medien über den ersten Staufener Missbrauchsfall an seine eigenen Erlebnisse erinnert wurde, die er zuvor offenbar verdrängt hatte.

Schwierige Arbeit

Für den Ermittler ist die Arbeit mit den Videos und Bildern aber die schwierigere. Er erzählt von einem Video mit einer Dreijährigen, die sexuell missbraucht wurde. Die Erwachsenen um sie herum hatten ihr suggeriert, dass das normal sei. Das Mädchen wurde später auffällig im Kindergarten. Was geschehen war, rekonstruierte Biehler im Lauf der ersten Staufener Ermittlungen.

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Er appelliert an die Menschen in der Umgebung von Kindern. Oft verrieten Verhaltensänderungen, das etwas nicht stimme. „Das sind massive Eingriffe im Leben eines Kindes“, betont Biehler. Das äußere sich fast immer in einer Wesensveränderung. Erwachsene, findet der Ermittler, müssen genauer hinschauen.

Gerechtigkeit

Ihm ist wichtig, dass die Opfer Gerechtigkeit erfahren. Vielen Betroffenen helfe es, nur zu hören, wenn der Richter die Tat als Unrecht bezeichne. Der Freiburger Kripobeamte findet es manchmal schade, dass er die Menschen, denen er durch seiner Ermittlungen helfen konnte, nicht weiter begleiten kann, sehen kann, was aus ihnen geworden ist. Wenn er seine Erkenntnisse vor Gericht im jeweiligen Prozess geschildert hat, ist seine Arbeit beendet.

Andere begleiten ihn noch immer: So wie der erste Staufener Missbrauchsfall – Biehler ist Mitglied jenes Vereins, der nach dessen Bekanntwerden gegründet wurde, um den betroffenen Jungen zu unterstützen. „Das war schon eine herausragende Geschichte“, sagt Biehler über den Fall und seine Tragweite.

Für ihn geht die Arbeit weiter – mit neuen Fällen. Dann beginnt Biehlers Spurensuche von Neuem.