Freiburg – Es sind Abgründe von ungeahnter Tiefe, die sich in diesem Prozess auftun. Christian L. hat sich äußerlich verändert, der Oberlippenbart ist abrasiert. Er trägt nur noch einen Kinnbart. Er trägt dasselbe schwarze Hemd wie schon zum Prozessauftakt. Der Hauptangeklagte im Staufener Missbrauchsfall ist nach den erschütternden Ausschweifungen zum Prozessauftakt vergangene Woche noch längst nicht am Ende seiner Ausführungen – im Gegenteil: Er hat gerade erst angefangen.

Dabei war bereits die Verlesung der Anklageschrift in der Vorwoche ein Ausblick auf das Unfassbare, was später in aller Ausführlichkeit folgen sollte. Christian L. und Berrin T., die Mitangeklagte und Mutter des neunjährigen Jungen, haben ihren Sohn über zwei Jahre gemeinsam missbraucht und im Darknet pädophilen Männern angeboten. Bis L. im vergangenen Herbst festgenommen wurde.

Vom Jungen "überrascht"

58 Anklagepunkte umfasst die Anklage der Staatsanwaltschaft. Es sind nur die Fälle, die die Justiz beweisen kann, zu denen es Videos oder Fotos gibt. An diesem Verhandlungstag referiert der 39-Jährige von Nummer 15 bis 58. Punkt für Punkt geht er die Anklageschrift durch, verbessert, korrigiert, unterbricht er zunehmend ungehemmter den Richter, wenn er der Meinung ist, er könnte die Anwesenden mit seinem Wissen erhellen. Mehr noch: L. ergänzt die Anklage, erweitert sie.

„Es macht mir nichts aus, die ein oder andere Tat mehr“ zuzugeben, sagt er kalt: „Es gab nicht nur Übergriffe auf den Jungen, die gefilmt worden sind. Wie viele, kann ich nicht sagen.“ Überhaupt sei er "überrascht gewesen von dem Verhalten" des Kindes, das "sofort mitgemacht" habe. 

Er sei überzeugt, so L. weiter, "dass schon einmal etwas gewesen sein muss". Er verweist auf einen offenbar drogenabhängigen Exfreund von Berrin T., auf deren mangelnde Fähigkeit, dem Kind ihre Mutterliebe zu vermitteln.

Skurrile Vaterfigur

Auch seine eigene Kindheit erwähnt er wie schon zum Prozessauftakt. Zwischen sechs und neun Jahren alt sei er gewesen, als der Bruder seines Stiefvaters ihn dazu gezwungen haben soll, Oralverkehr mit ihm zu haben und ihn mit der Hand zu befriedigen.

Die Staatsanwältin hakt ein: "Wenn man selbst so etwas erlebt hat, warum tut man dann so etwas jemand anderem an?" L. flüchtet sich in die ihm eigene Logik: "Ich habe mir schon damals einreden lassen, das sei normal." Eine echte Vaterfigur habe es in seinem Leben nie gegeben. Stattdessen prägt er selbst eine für ihn schlüssige Rolle – in der er das Kind beschützt, vor zu "harten" Übergriffen seiner Peiniger bewahrt.

Zu den schlimmsten von ihnen zählt „der Spanier“ G.: Jener Mann, der sich ihm als „belgischer Kinderarzt“ vorgestellt habe. Er soll es sein, der L. auf die Idee bringt, den Jungen im Darknet anzubieten. Ein Mann, der ein kleines Mädchen mit einem Stethoskop gewürgt und missbraucht haben soll. Der Mann habe „Erfahrungen damit, Familien zu unterstützen mit der Nebenleistung, dass er von ihren Kindern befriedigt wird." Es sind Sätze wie diese, die der Angeklagte erzählt in einem Juristendeutsch, das er sich durch seine einschlägige Prozesserfahrung angeeignet haben muss. Das bringt er auch immer wieder zum Ausdruck: "Da kenne ich mich schon aus", sagt er dann. Oder: "Ich bin ja zeitlich gebunden und habe hier einige Termine" mit Blick auf die Parallelverhandlungen gegen die übrigen Peiniger. Dort ist er als Zeuge geladen. Es klingt, als wäre er selbst ein Geschäftsmann auf der Durchreise.

"Wollte eingreifen können"

Die Reise dieses Mannes führt in eine dunkle, perfide Welt. Eine, in der er sich als Beschützer seines Opfers inszenieren will. Er habe oft nicht zugelassen, dass Männer wie G. mit dem Kind alleine sind. "Ich wollte eingreifen können." Dass er dabei selbst sexuelle Erregung empfand, den Vergewaltigungen durch Dritte zuzusehen, gibt er erst auf Nachfrage der Staatsanwältin Nikola Novak zu. Anderen Männern will er Analsex mit dem wehrlosen Kind nicht erlauben: "Selbst zu Herrn G. habe ich gesagt, dass das noch nicht in Frage kommt" und der Junge " in der Hinsicht noch weitere Zeit benötigt". Gleichzeitig stellt er G. in Aussicht, dass dieser sich zu einem späteren Zeitpunkt auf diese Weise an dem Kind vergehen dürfe.

Für sich selbst macht L. eine Ausnahme. Auch Berrin T. soll sich laut Anklage an dem Jungen auf diese Weise vergangen haben. Die beisitzenden Richter stellen Detailfragen. Sie sind zu heftig, um sie zu wiederholen. Doch sie müssen gestellt werden, um das Ausmaß des Leids des Kindes zu erörtern. Bereitwillig gibt L. Auskunft. Er habe auch, berichtet er, Gespräche mit dem Jungen geführt, "ob das jetzt so schlimm war".

Langsam wird deutlich, wie grausam L. über den Jungen verfügte. Er habe die Kontakte im Darknet geknüpft. Aber Berrin T. sei über alles informiert gewesen, soll gewusst haben, dass ihr Sohn vergewaltigt wird, während sie im Wohnzimmer saß, wenn sie nicht selbst daran beteiligt war. Die Angeklagte sei nicht in der Lage gewesen, sich um den Jungen zu kümmern, erzählt L. Als sei sein eigener Umgang mit dem Kind etwas Gutes dagegen.

Grausamer Plan

Es sind die Worte eines Mannes, der ohne erkennbare Reue davon erzählt, wie geplant war, das Kind über Jahre den Fantasien von G. auszusetzen: "Es war geplant, dass der Kontakt länger, bis ins Jugendalter, besteht. Er wollte die Treffen aufrecht erhalten“. Mehr noch: G. sei sogar bereit gewesen, der "Familie" ein Haus in Bad Krotzingen mietfrei zur Verfügung zu stellen". Mit der Gegenleistung, dass er den Jungen jederzeit "ohne Vorbehalte besuchen" dürfe. Dazu hätten Christian L. und Berrin T. eine "„monatliche Förderung von 2000 Euro“ erhalten, wie es der Angeklagte umschreibt.

Opferanwältin Ravat will wissen, wann es zum Analverkehr mit G. hätte kommen sollen. Da lächelt der Angeklagte süffisant: „Es war von meiner Seite nicht geplant, verhaftet zu werden.“ Das war im vergangenen September. Vielleicht, „wäre es im Oktober/November gewesen, vielleicht auch erst ein Jahr später“. Dann eben, wenn das Kind "vorbereitet" gewesen wäre. 15 Mal hatte es "Treffen" mit dem "Spanier" gegeben. Jedes Mal waren Summen zwischen 3000 und 5000 Euro vereinbart worden. Jedes Mal war vorgesehen, dass sich der Mann "ein bis zwei Mal pro Tag" an dem Jungen vergehen darf.

Inszenierung von Fürsorge

Als das Kind vom Jugendamt für wenige Wochen von der Mutter weggeholt wird, macht sich L. vor allem darüber Gedanken, ob es etwas verraten könnte. Aber, betont er, er habe sich auch Sorgen gemacht, als ihm von der Pflegefamilie zu Ohren kam, dass das Kind das Essen verweigere. L. inszeniert sich wieder als fürsorgender Stiefvater. Derselbe Mann, der damals bereits in Kontakt kam mit einem Pädophilen mit Tötungsfantasien, Codename Varga.

"Dass es solche Leute im Darknet gibt, war mir schon bewusst", erzählt L. "Aber ich war entsetzt und habe ihm klargemacht, dass das keinesfalls in Betracht kommt", ihm den Jungen "für eine Tötung zu überlassen“. Seinen Kontakt zu Varga übermittelt er der Kripo, die den Mann zu einem falschen Treffen locken und verhaften kann. Auch dafür will L. Dankbarkeit. Ebenso wie für seine Berichte aus den Abgründen, die für ihn zu einer weiten Ebene geworden sind.

Am Dienstag will das Gericht die angeklagte Mutter des Kindes hören. Hierfür ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen.