„Ich bin jetzt so aufgewühlt, ich kann jetzt nicht sprechen“, sagt der Mann, der Christian L. „mit offenen Armen“ wieder in seiner Kirchengemeinde empfangen hat und ohne jegliche Auflagen, nachdem er 2007 freigesprochen worden war. Pfarrer Hartmut F. hat die evangelische Kirchengemeinde Staufen über viele Jahre geleitet – bis 2013, als er in eine Gemeinde in Nordbaden wechselte.
Christian L. kennt er gut. Der heute 42-Jährige steht vor Gericht, weil er vier Jungen sexuell missbraucht haben soll, über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten. Es geht um 330 Tatvorwürfe. Die Staatsanwaltschaft geht von möglichen weiteren Opfern aus.
Pfarrer sagt zu Christian L. aus
F. ist als Zeuge geladen. Er erzählt von einem engagierten Mitarbeiter, der sich vor allem bei den Pfadfindern einbrachte. „Ich vertraute ihm und habe mich täuschen lassen“, sagt der Pfarrer heute. So sehr, dass er nie das Urteil anforderte: „Ich sah dafür keine Notwendigkeit.“ Das Urteil des Landesgerichts Freiburg, das das ursprüngliche Urteil des Amtsgerichts aufhob, deutet darauf hin, dass der Pfarrer eine Mitverantwortung für den damaligen Freispruch trägt.
Fatale Situation
Ein Rückblick: 2004 kommt es zu einem Gespräch mit den Eltern von Paul S., dem Jungen selbst und Christian L. Auf die Konfrontation hatten die Eltern bestanden. Der Junge sollte gegenüber seinem einstigen Betreuer sagen, was er ihm vorwirft. Zuvor hatte er sich seinen Eltern anvertraut.
Christian L. bestreitet alles. Sagt, dass er eben unruhig schlafe und Paul zufällige Berührungen wohl falsch verstanden habe. Die Eltern erstatten Anzeige. Doch F. glaubt seinem Mitarbeiter: „Er hat ja gesagt, dass es nicht stimmt.“
Die konfrontative Gesprächssituation ist eine, in der der Junge „kaum ein Wort sagt“, wie F. dem Gericht erzählt. Der Vater habe das Gespräch „dominiert“. Der wiederum erhebt in einem Gespräch, das protokolliert und vor Gericht vorgetragen wird, schwere Vorwürfe gegen den Pfarrer. Der soll seinen Sohn angeschrien haben, ihn gefragt haben, ob er wisse, was er da sage und was er Christian L. damit antue. F. wiederum bestreitet das: „Diese Worte habe ich nie gesprochen“, sagt er nun vor Gericht.
Urteil wird revidiert
Fest steht, dass das Landgericht das ursprüngliche Urteil gegen Christian L. 2007 aufheben musste, weil der damals Betroffene durch die Gesprächssituation praktisch nicht mehr von seiner Aussage abweichen konnte, ohne sich unglaubwürdig zu machen. Im Zweifel für den Angeklagten. „Ich wünschte, es wäre damals etwas kleben geblieben“, sagt F. Er betont mehrfach, wie sehr er seine damalige Entscheidung bereue und „wie leid es mir tut, was den Kindern an Leib und Seele angetan wurde“. „Aber ich habe sie nach bestem Wissen und Gewissen getroffen.“
Von der Landeskirche habe niemand nach dem Freispruch von Christian L. nachgehakt. Weder wurde das Urteil angefordert, noch ergründet, ob es mögliche Opfer geben könnte, die sich nicht zu Wort gemeldet haben. Das sei heute anders, betont der Beobachter der Landeskirche, der an diesem Tag bei Gericht erscheint. Er war vorher nie da. Nur jetzt, wo einer ihrer Pfarrer aussagt.
Professor Jürgen Kuckein war einst Richter am Bundesgerichtshof, heute arbeitet er als freier Mitarbeiter für die Landeskirche: Er sei im Auftrag des Bischofs eingesetzt, „um Fälle der Grenzverletzung aufzuarbeiten“, sagt er dem SÜDKURIER. Ob damals Fehler gemacht worden seien? Das könne er nicht beantworten, so lange er die Fakten nicht alle kenne.
Das Urteil von damals hat er sich bislang nicht beschafft. Es ist für 16 Euro bei der Geschäftsstelle anforderbar. Dann sagt er noch, Christian L. sei nicht von der Landeskirche angestellt worden, sondern von der Gemeinde: „Das ist alles schwierig.“
Landeskirche sieht kein Versäumnis
Auf Anfrage des SÜDKURIER teilte ein Sprecher der Landeskirche mit: „Die Kirchengemeinde hat dem Gericht vertraut und zum damaligen Zeitpunkt keinen Anlass gesehen, dessen Entscheidungsfindung im Einzelnen nachzuprüfen. Die Ermittlungen lagen ausschließlich bei der Staatsanwaltschaft und sollten nicht ergänzend dazu durch die Kirchengemeinde erfolgen.“
Versäumnisse sehe die Landeskirche auch aus heutiger Sicht nicht. Dennoch hat die Kirche einen externen Juristen beauftragt, nach Abschluss des aktuellen Verfahrens „den Prozess der damaligen Wiedereinstellung zu überprüfen“.
Schweigen auch nach Hinweisen
2012 gibt Christian L. seinen Posten bei der Kirche auf. Wenige Jahre später kommen Verdachtsmomente auf zu Kindern, die er betreut hat. Seit 2011 gibt es einen externen Berater für Verdachtsfälle, sagt Opferanwältin Katja Ravat. Sie hakt nach: Nein, ein solcher Berater wurde nicht eingeschaltet, erklärt F. 2015, erinnert er sich, habe er sich doch Sorgen gemacht. Aber keinen Verdacht gemeldet.