„Ich lebe in ständiger Angst.“ Ausgerechnet er. Der Mann, dem vorgeworfen wird, dass er unter anderem als Pfadfinderbetreuer vier Kindern sexuelle Gewalt angetan hat. Christian L. heißt der Angeklagte im neuen Staufener Missbrauchsfall. Er ist 42 Jahre alt, wirkt aber viel älter. Müde, abgearbeitet und knochig. Die viel zu weite Kleidung lässt ihn noch gebrechlicher wirken. Seit einem Jahr sitzt er nun schon in Untersuchungshaft. Aber dort fühlt er sich nicht sicher. „Da habe ich schon eine drauf bekommen.“ Nicht mal wegen der Vorwürfe gegen ihn, betont er, „sondern weil der Fernseher zu laut war“, sagt der Angeklagte zum Prozessbeginn.
Angst vor Entdeckung
Jetzt hat er Angst, dass sein Zellengenosse Wind davon bekommen könnte, weshalb er in U-Haft sitzt. Vorher saß er in einer anderen Haftanstalt in einer Einzelzelle. Aber schon da habe er den Hofgang nicht ausgenutzt. Aus Angst. In dem Gefängnis, in dem er jetzt sitzt, werde er begleitet, wenn er zum Arzt müsse. Und Christian L. muss oft zum Arzt. Der 42-Jährige hat Beschwerden, die man sonst eher bei Rentnern vermutet. Jede Menge Gelenkbeschwerden, wurde vielfach operiert, von der Schulter bis zum Miniskus. Seine gesundheitliche Biografie breitet er aus, vor Gericht, ganz ohne Scham.
Auftritt wirkt orchestriert
Unfreiwillig erinnert sein Auftritt, der durchaus kalkuliert wirkt, an jenen von Harvey Weinstein zu seinem Prozessauftakt. Ein Mann, der sich plötzlich gebrechlich zeigt, mit Rollator zum Gericht kommt. Als wolle er um Mitleid heischen. Bei Christian L. ist das ebenso schwierig wie bei Harvey Weinstein. Sein Gesicht versteckt er vor den Kameras unter einem Pulli. Er will nicht erkannt werden. Schon gar nicht von seinem Zellengenossen.
Intelligent und manipulativ
Dieser Mann spricht wohl überlegt, er ist intelligent, keine Frage. Er hat etwas Manipulatives: Der 42-Jährige spricht mit dem Richter als spräche er mit einem Kollegen – als stünden beide auf einer Ebene. Seine Worte wählt er mit Bedacht, trotzdem antwortet er schnell, spricht ruhig. So ruhig, dass es schon fast aufgesetzt wirkt. Denn dass es ihm nichts ausmacht, wegen der Vorwürfe vor Gericht zu stehen, scheint schwer vorstellbar. Anmerken lässt er sich davon kaum etwas.
Zu den Tatvorwürfen will er sich dann aber trotzdem nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit äußern. Auch der Sachverständige soll sein Gutachten über ihn nicht öffentlich vortragen. Sein Anwalt stellt einen entsprechenden Antrag, den der Richter bewilligt. Denn, so entscheidet der Vorsitzende, die öffentliche Erörterung des Tathergangs würde schutzwürdige Interessen des Angeklagten verletzen. Es gehe um Umstände aus seinem persönlichem Lebensbereich, seine Familiengeschichte und seine Sexualbiografie.
Kinder, die ihr Schweigen brechen
Doch es ist auch ein Prozess, in dem mehrere Kinder als Zeugen auftreten, ihr Schweigen brechen und damit einen Mann belasten, der schon einmal wegen ähnlicher Vorwürfe vor Gericht stand. Einige der ihm nun zur Last gelegten Taten hat er laut Staatsanwältin Nikola Novak bereits zugegeben.
Schon 2004 geriet er in den Fokus von Missbrauchsermittlungen, es gab einen Prozess. Doch die Beweise reichten nicht aus, um seine Schuld zweifelsfrei festzustellen. Das Gericht musste ihn freisprechen – im Zweifel für den Angeklagten. Der Zweifel aber bleibt, ob dieser Mann damals wirklich unschuldig war. Klären lässt sich das nicht mehr. Diesmal aber drohen dem Mann mehrere Jahre Haft. Auch die Frage einer Sicherungsverwahrung steht im Raum. Denn wenn sich bewahrheitet, was im vorgeworfen wird, könnten auch künftig kleine Jungen in Gefahr sein.
Doch was hat diesen Mann geprägt, welche Vorgeschichte hat er? Hat er eine Kindheit, die selbst von Missbrauch geprägt war? Im öffentlichen Teil deutet nichts darauf hin. Seinen Vater hat er offenbar nie kennengelernt, er wuchs mit seinem Zwillingsbruder bei seiner Mutter auf. Sein Bruder habe eine Vaterfigur vermisst, Aufmerksamkeit gebraucht, er selbst sei da nicht so gewesen. Wieder so ein Satz, in dem er sich zu profilieren versucht, sich besser darstellt auf Kosten anderer, die er als schwach bezeichnet.
Keine engen Familienbande
Es gibt auch einen Halbbruder, zu dem er aber keinen Kontakt mehr habe, sagt Christian L., als er vor Gericht von seinem bisherigen Leben erzählt. Mit der Mutter gebe es noch Briefwechsel, aber auch das „könnte mehr sein“, sagt er ein wenig vorwurfsvoll. Über sein Privatleben ist wenig bekannt.
Er hat wohl eine längere Beziehung zu einer Frau gehabt, kurze Liaisons über ein paar Wochen oder Monate mit anderen Frauen, sagt er, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie viel ihm diese Frauen bedeutet haben. Er erwähnt nur den Nachnamen einer Frau, nicht den Vornamen, wie es wohl viele tun würden, wenn sie von einem einst geliebten Menschen sprechen würden. Christian L. handelt diesen Punkt in wenigen Sätzen ab, ohne jegliche Emotion, fast abstrakt, wie den Punkt einer Liste, die er aufzählt.
Im Breisgau aufgewachsen
Christian L. wuchs im Breisgau auf, sehr ländlich, ging dort zur Schule. Das mit dem Gymnasium sei damals schwierig gewesen, wegen der langen Anfahrt. Deshalb habe er nur den Realschulabschluss gemacht, eine Lehre als Florist begonnen, was ihn aber „unterfordert“ habe,l wie er betont. Später machte er eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Aber auch da gab es Probleme. Weil er so groß ist und die Betten so niedrig. Er holte das Abitur nach, begann zu studieren: Grundschulpädagogik.
Doch dann werden Vorwürfe gegen ihn laut, er wird angeklagt. Die genauen Umstände des Falls werden vor Gericht nicht erneut erörtert. Er wurde ja freigesprochen. Doch wenn Christian L. über diese Zeit spricht, klingt auch ein wenig ein Vorwurf durch. Weil der Prozess ihm seine Zukunftspläne verhagelte.
In der Kirchengemeinde aktiv
Damals war er schon in der Kirchengemeinde aktiv, ließ seine aktive Tätigkeit aber ruhen, so lange das Verfahren lief: „Das war klar, dass ich aufhöre, sobald etwas in der Luft hängt“, erklärt er, als wolle er Verantwortungsbewusstsein suggerieren. Weil er nicht wusste, „wie lange es geht mit dieser Verhandlung“, brach er das Studium ab.

Später, nach dem Freispruch, nahm er seine Tätigkeit bei der Kirche wieder auf. Er wollte wieder studieren. Aber das hätte alles zu lange gedauert, rechtfertigt er den erneuten Abbruch. Eine Zeit lang arbeitete er für eine IT-Firma. Die habe ihn wegen Geldnöten entlassen. Wieder klingt es so, als habe das Leben ihm einfach keine Chance geben wollen, wenn Christian L. davon erzählt.

Später fing er bei einem Radladen in Staufen an. Dort fand er die Anerkennung seiner Kollegen und der Kunden, wie ein Mitarbeiter dem SÜDKURIER bestätigte. Dass Christian L. sich an Kindern vergangen haben soll, konnte sich der Kollege nicht vorstellen. Auch andere nicht, die ihn kannten. Er war der hilfsbereite, nette Typ von nebenan, kompetent und nett zu Kindern. So beschreiben ihn mehrere, mit denen der SÜDKURIER sprach.
Gruppenleiter der Wölflinge
Bis 2016 hat Christian L. nach eigenen Angaben Gruppen der Pfadfindervereinigung Lazarus von Schwendi bei der evangelischen Kirchengemeinde in Staufen betreut. Er hat die Homepage der Pfadfinder gepflegt, die dortigen Foren moderiert, sagt er. Er war Gruppenleiter, Teil der sogenannten Stammesführung und „immer Ansprechpartner“.
Betreut habe er hauptsächlich „Wölflinge“, Kinder im Grundschulalter von der ersten bis zu vierten Klasse. Er begleitete aber auch Fahrten, bei denen ältere Jugendliche bis 17 Jahre dabei gewesen seien. „Ehrenamtlich“, wie Christian L. betont. Es wirkt fast, als erwarte er dafür so etwas wie Dankbarkeit.