Der große, hagere Mann versteckt sein Gesicht unter dem weiten Fleecepulli. Der 42-Jährige will möglichst unerkannt bleiben. Doch dafür ist es wohl zu spät. Als das 8000-Einwohner-Städtchen Staufen im vergangenen Frühjahr zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren als Ort des Missbrauchs in die Schlagzeilen geriet, waren viele schockiert. Mehr als 600 Fälle von Kindesmissbrauch hatte ihm Staatsanwältin Nikola Novak vorgeworfen, als die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen waren.

Der Angeklagte Christian L. bedeckt sein Gesicht zum Schutz vor den Kameras mit einer Jacke.
Der Angeklagte Christian L. bedeckt sein Gesicht zum Schutz vor den Kameras mit einer Jacke. | Bild: Moll, Mirjam

Angeklagter aus der Region

Nun beginnt der Prozess gegen den Breisgauer, der in der Region aufgewachsen ist. Er soll sich an vier Kindern und Jugendlichen im Alter von acht bis 14 Jahren vergangen haben, eines seiner Opfer soll er sogar wöchentlich gepeinigt haben. Vorgehalten werden ihm nun 330 Fälle von Kindesmissbrauch. Bei den übrigen Vorwürfen habe das Gericht keinen dringenden Tatverdacht feststellen können, daher wurden sie nicht zur Anklage zugelassen, erklärt Staatsanwältin Novak.

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Der Angeklagte, der seinen Pulli erst herunterzieht, als Richter Alexander Schöpsdau den Saal betritt und die Kameras ausgeschaltet werden müssen, ist blond, trägt einen Dreitagebart, sein Gesicht wirkt ausgemergelt. Er heißt Christian L. So wie der verurteilte Haupttäter im ersten Staufener Missbrauchsfall um einen damals neunjährigen Jungen. Doch hier enden die Parallelen.

Interview Staatsanwältin (1) Video: Moll, Mirjam

Dieser Christian L. war sozial integriert in der kleinen Stadt. Die Menschen kennen ihn. Ein hilfsbereiter Typ, hieß es im vergangenen Sommer, als der SÜDKURIER vor Ort recherchierte. Ein Mann, dem man zu vertrauen schien. Das Vertrauen seiner Opfer hat er sich laut Anklage erschlichen. Sie leiden bis heute unter den Folgen der Taten. Sein erstes Opfer brauchte acht Jahre, bis es sich offenbarte.

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In diesem Fall spielt das Schamgefühl von Jungen eine maßgebliche Rolle. Erst, als der erste Staufener Missbrauchsfall an die Öffentlichkeit gelangte und verschiedene Medien, auch der SÜDKURIER, darüber berichteten, traute sich der Betroffene des aktuellen Falls, seine Erlebnisse zu offenbaren. Staatsanwältin Novak betont zum Prozessauftakt, dass Jungen meist länger brauchen, bevor sie über erlebten Missbrauch sprechen könnten.

Manipulatives Vorgehen

Sie wirft Christian L. vor, die Kinder regelrecht manipuliert zu haben. Er habe sie glauben gemacht, dass das, was er mit ihnen tat, normal sei. „Für die Kinder stellte er einen bewunderten Vaterersatz dar“, schreibt Novak in ihrer Anklage, er habe ihnen suggeriert, dass das, was sich zugetragen hatte, auch von ihnen gewollt gewesen sei. Die Folge: Viele seiner Opfer schwiegen jahrelang, schleppten ein falsches Schamgefühl mit sich herum.

Opferanwältin Katja Ravat spricht mit Staatsanwältin Nikola Novak vor Beginn des Prozesses um Christian L., dem Hauptangeklagten im ...
Opferanwältin Katja Ravat spricht mit Staatsanwältin Nikola Novak vor Beginn des Prozesses um Christian L., dem Hauptangeklagten im neuen Staufener Missbrauchsfall. | Bild: Moll, Mirjam

Der Mann, der sich den Kindern gegenüber zunächst wie ein väterlicher Freund gab, wuchs selbst ohne Vater auf. Über seine Kindheit gibt er dem Gericht bereitwillig Auskunft. Zwar sei er manchmal neidisch gewesen auf die anderen Kinder, aber eigentlich habe er keinen Vater gebraucht, behauptet er. Er sei schon als Kind viel alleine unterwegs gewesen, auf dem Bauernhof bei dem Haus am Waldrand, wo er aufwuchs – oder wenn er alleine im Wald herumstreifte.

Interview Staatsanwältin (2) Video: Moll, Mirjam

Der ausgebildete Krankenpfleger holte als Erwachsener das Abitur nach, wollte Grundschulpädagogik studieren – bis erste Vorwürfe gegen ihn laut wurden und er das Studium abbrach. Später machte er einen Neuversuch, brach dann aber erneut ab. Ein paar Jahre arbeitete er in der IT-Branche, später nahm er kleinere Jobs an – zuletzt in einem Radgeschäft in Staufen, wo er von vielen Kunden geschätzt wurde, wie der SÜDKURIER erfuhr.

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Der Angeklagte wirkt intelligent, antwortet schnell und ohne Zögern, bleibt ganz ruhig. Sollte er innerlich angespannt sein, so lässt er sich nichts davon anmerken. Vielleicht liegt es daran, dass er schon einmal vor Gericht stand – schon 2004 kamen Missbrauchsvorwürfe gegen ihn auf. Doch die Beweise reichten nicht aus, das Gericht musste im Zweifel für den Angeklagten entscheiden und sprach ihn frei. Die neuen Tatvorwürfe reichen von 2010 bis 2017, die die Staatsanwältin nach vielen Jahren Erfahrung mit solchen Fällen trotz ihrer Schwere nüchtern vorträgt.

Betreuerrolle missbraucht

Seine Opfer lernte der Mann zum Teil als Betreuer der evangelischen Pfadfindergruppe Lazarus von Schwendi kennen. Seine Tätigkeit dort hatte er während der ersten Anklage um 2004 ruhen lassen, nahm sie nach dem Freispruch aber wieder auf. Die Kirche ließ in offenbar gewähren. Dem SÜDKURIER wollte die Landeskirche im vergangenen Jahr nicht viel dazu sagen, die Pressestelle der Kirche verwies damals auf eine allgemeine Stellungnahme.

Auf perfide Weise soll der heute 42-Jährige das Vertrauen der Kinder gewonnen haben – mit gemeinsamen Aktivitäten wie Fahrradtouren, Kochen oder Film schauen. Er ging fast immer gleich vor, methodisch. Die Kinder lud er zu sich nach Hause ein, lockte sie vom Wohnzimmer irgendwann ins Schlafzimmer. Vordergründig fürsorglich berührte er die Kinder scheinbar zufällig im Genitalbereich. Er gab ihnen zu verstehen, dass das gegenseitige Berühren normal sei, zwang sie zu Oralverkehr, Masturbation und in mehreren Fällen auch zum Analverkehr.

Jahrelange Qual

Im Fall von Tim W. (Name geändert zum Schutz der Opfer, A.d.R.) ging der Missbrauch über drei Jahre. Der Junge versuchte mehrfach, aus der Pfadfindergruppe auszutreten. Doch seine Eltern interpretierten den Wunsch als Laune eines Kindes, schickten ihn weiter dorthin – nicht ahnend, was ihr Sohn durchleben musste. Robert A. wurde der Anklage zufolge mindestens ein Mal wöchentlich von dem Mann missbraucht und vergewaltigt. Mit den Schmerzen, die der Analverkehr, den das Kind mehrfach über sich ergehen lassen musste, auslöste, blieb es alleine – der Junge brachte es nicht über sich, sich seiner Mutter zu offenbaren.

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Lars B. (Name geändert zum Schutz der Opfer, A.d.R.) wurde auf einem Campingplatz und bei einem gemeinsamen Fahrradausflug zu seinem Opfer. Fabian G. (Name geändert zum Schutz der Opfer, A.d.R.) war einmal sein Patenkind, bis die Eltern fanden, dass sich Christian L. zu sehr in die Erziehung des Kindes einmischte. Dass er sich an ihrem Sohn vergangen hatte, wussten sie damals nicht. Auch er war wohl Teil der Pfadfindergruppe, auf Zeltfreizeiten in Frankreich wurde er von seinem einstigen Paten gepeinigt. Irgendwann konnte der Junge die Schule nicht mehr besuchen.

Der Angeklagte sagt aus

Einige der Taten habe Christian L. zugegeben, sagt Staatsanwältin Novak. Die Vorwürfe gegen den Mann wiegen schwer. So schwer, dass er sich zwar zur Sache äußern will, aber gleich zu Beginn des Prozesses den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt. Zu groß ist offenbar die Scham, die er empfindet. Schwer zu sagen, was in diesem Menschen vorgeht, der da auf der Anklagebank sitzt. Er wirkt abgestumpft.