Die Wut wächst und mit ihr die Gefahr, deshalb spielen jetzt alle „Biedermann und die Brandstifter“: Max Frischs Lehrstück über die biederen Helfershelfer des Radikalismus. Dabei müsste es doch erst einmal darum gehen, die Radikalen selbst zu verstehen.
Und auch darüber hat Max Frisch geschrieben. „Graf Öderland“ lautet der Titel seiner „Moritat in zwölf Bildern“. Aber im Unterschied zum „Biedermann“ traut sich an sie kaum ein Theater ran.
Graf Öderland, das ist ein Stück über die Sinnlosigkeit des Tötens, aber auch des Lebens. Ein Staatsanwalt rätselt so lange über das Motiv eines Mörders, bis er anfängt, ihn auf fatale Weise zu verstehen. Bald zieht er als „Graf Öderland mit der Axt in der Hand“ selbst mordend durchs Land.
Ein Heer von Wutbürgern
Ihm zur Seite steht ein ganzes Heer von gleichgesinnten Wutbürgern. Grund ihrer Rebellion: kein politisches Programm, keine soziale Not. Sondern wohl eher Ekel am Alltag, an einem stumpfsinnigen Funktionieren ohne Aussicht auf Sinn.
Auf der Bühne ist es allerdings oft genug das Stück selbst gewesen, das nicht funktioniert hat. „Graf Öderland gehört zu den Gestalten, die ihrem Wesen nach ohne Ende sind“, erkannte schon der Autor. Das widersetzt sich der Theaterlogik, die immer auf ein Ende zielt. „Frisch traut uns zu, Uneindeutigkeit auszuhalten“, schreibt die Dramaturgin Nina Rühmeier. Das widersetzt sich der Diskurslogik, die immer klare Thesen braucht.

Bei so viel Widerborstigkeit legt Regisseurin Claudia Bossard am Zürcher Schauspielhaus selbst die Axt an und lässt sich wuchtig auf den Dramentext niedersausen. Zwischen die zersplitterten Szenen streut sie jede Menge Fremdtext ein, unter anderem Max Frischs berühmte Fragebögen.
Der Mörder in Guantanamo-Sträflingskluft (Henri Mertens) bildet mit dem Graf Öderland (Thomas Wodianka) eine Schicksalsgemeinschaft wie Mephisto und Faust: Der eine liefert die Theorie, der andere schreitet zur Tat. Bei der Arbeit in der Bankfiliale habe er auch immer durch Gitterstäbe schauen müssen, sagt der Mörder. Und auch sonst sei alles ganz genauso klein und beklemmend gewesen wie jetzt in seiner Gefängniszelle. Worin also besteht die Strafe?
Als wäre bei ihm der Groschen gefallen, prügelt der Staatsanwalt denn auch auf einen Landjäger ein. „Ich bin kein Baum!“, ruft der noch verzweifelt, da fällt auch schon die Axt hernieder. Wenn es keinen Unterschied macht, ob du im Gefängnis einsitzt oder im Büro, entscheidest du dich halt fürs größere Drama.
„I need a hero“, singt der Mörder, da tauscht der Graf Axt gegen E-Gitarre, greift wuchtig in die Saiten, als sei er dieser Superheld, den Bonnie Tyler so hymnisch vermisst. Und als der Mörder unversehens begnadigt wird, erst gar nicht weiß, was er mit seiner gewonnenen Freiheit anfangen soll, da kommt ihm ein Geistesblitz: die Witwe seines Opfers besuchen! Ihr „ein dickes Sorry“ sagen! So sehen wir ihn bald ekstatisch auf Knien rutschen und mit Justin Biebers Worten „Sorry“ ins Mikro sülzen.
Blutrot tropft die Langeweile
Rebellion aus Langeweile und Narzissmus statt aus Notwendigkeit: Das Motiv erscheint erschreckend schlüssig, wenn auch der Erfolg fehlt. Vier Bildschirmtürme begrenzen die entkernte Bühne, zu Beginn hören und sehen wir darauf noch die pure Langeweile gemächlich vor sich hin tropfen – versinnbildlicht von einer Grafik in Schwarz und Weiß. Nach den Mordtaten tropft die Flüssigkeit noch immer über die Mattscheibe, nur in Blutrot.

Und die anderen? Elsa, die Ehefrau des Juristen (Laina Schwarz), bleibt lieber in ihrem Alltagsgefängnis. Nach dem vermissten Partner lässt sie mehr pflichtschuldig suchen, in ihrer Affäre mit Anwalt Doktor Hahn (Lukas Darnstädt) steht eine Alternative ja längst bereit.
Ob man zur Axt greift oder nicht, ist weniger eine Frage der Moral als eine der persönlichen Disposition: Graf Öderland erkennt das selbst, als er sich einem Verräter in seinen Reihen zum Opfer darbietet, ihm die Axt in die Hände drückt, sich niederkniet zum Schädelspalten. Soll er doch! Wenn er sich traut! Am Ende lässt sich der verhinderte Mörder lieber selbst erschlagen.
Nicht jedes Bild sitzt
Wie Bossard solche Aspekte aus dem Stück herausliest und bis zur Groteske nachschärft, ist großartig. Überhaupt lässt der Abend an Unterhaltsamkeit nichts zu wünschen übrig. Vor allem die darstellerischen Leistungen bereiten Freude, allen voran Laina Schwarz als wahlweise verwöhnte Anwaltsfrau oder schmierige Politikerin sowie Henri Mertens in der Rolle des naiv tagträumenden Mörders aus Langeweile.
Nur manchmal trägt die Improvisationslust das Ensemble aus der Kurve, nicht jedes Bild sitzt: Wenn Elsa und Doktor Hahn die Post aus einer schier endlos langen Pappröhre fischen müssen, wirkt das ähnlich bemüht wie mancher Wortspielkalauer (“Gott, ist das frisch hier!“, „Mann, bist du bieder!“).
Und wie findet der Wutbürger, der ja „seinem Wesen nach ohne Ende“ ist, zu einem ebensolchen? Bei Max Frisch fleht er so verzweifelt wie vergeblich den Moment des Aufwachens herbei. In Zürich dagegen scheint ihm ein kurzer Befehl zu genügen: „Man hat mich geträumt. Erwachen!“ Ihre Tat rückwirkend in eine verträumte Verirrung umzudeuten, dieses Vorrecht haben nur die Amokläufer aus besseren Kreisen.
Kommende Vorstellungen: am 28. September sowie 3., 6. und 12. Oktober im Zürcher Schauspielhaus. Weitere Informationen: www.schauspielhaus.ch