Erst mal ist wichtig, eine Legende zu beseitigen. Die „deutsche Brotkultur“ ist kein Welterbe. Zwar wird diese Falschmeldung selbst von seriösen Medien immer wieder verbreitet. Aber anders als etwa maltesisches Il-Fitra-Brot oder das Maniok-Cassava, das auf Kuba, Hispaniola, in Venezuela und Honduras beliebt ist, hat sie es nicht auf die internationale „List of Intangible Cultural Heritage“ geschafft.
So wie das Skatspielen wurde sie von der deutschen Unesco-Kommission nur ins nationale Verzeichnis kultureller Praktiken aufgenommen. Offenbar fehlt ihr die globale Bedeutung, auch wenn der Eintrag 2014 mit der unbelegten Behauptung begründet wurde, deutsches Brot sei „weltweit beliebt“.
Was dem Eintrag auch fehlt, ist eine Definition, was das denn sein soll, deutsches Brot. Stattdessen hat man einfach die vermeintlich einzigartige Vielfalt der Sorten hervorgehoben. Aber wirklich einzigartig ist bloß das Brotregister, das der Verein „Deutsches Brotinstitut“ in Weinheim führt. Es hat gegenwärtig 3232 Einträge, zu denen diverse internationale Standards wie Ciabatta, Knäckebrot oder Pide zählen. Alles lecker. Aber sie als deutsche Brotspezialitäten zu bezeichnen, ist peinlich.
Und so lässt ihre Beliebigkeit die Sammlung wie den hilflosen Versuch wirken, die Krise des Bäckerhandwerks zu verdecken: Die Zahl der Betriebe ist in den vergangenen zehn Jahren von 12.611 um fast ein Drittel auf 8912 geschrumpft. Die Industrie erobert immer mehr Marktanteile. Das deutsche Brotregister aber wächst und wächst und wächst.
Frankreichs Nationalbrot entsteht 1920
Letztlich ist es auch Quatsch, die Kultur vom Brot national verengt zu betrachten. Klar trägt sie, rohstoffbedingt, immer eine regionale Signatur. Aber ihre Spezialitäten entwickeln sich immer gerade dann, wenn unterschiedliche Traditionen und Praktiken aufeinandertreffen, etwa dank Migration und sozialer Veränderungen. Griffigstes Beispiel: Das Nationalbrot schlechthin entsteht um 1920 in Paris.
Dort waren nämlich im Laufe des 19. Jahrhunderts der vom Briten Jacob Perkins entwickelte Dampfbackofen, die dank ungarischer Mühlentechnologie verfeinerten Auszugsmehle sowie die in Wien erfundene Presshefe zusammengekommen. Und seit Karl Marx aufs Elend der Bäcker aufmerksam gemacht hat – als „Todeskandidaten“ bezeichnet er sie wegen ihrer Arbeitslast im „Kapital“ –, kommen Nachtbackverbote auf, zuerst in Deutschland, nach dem Ersten Weltkrieg auch in Frankreich: Daher setzt sich um 1920 die zeitsparende „méthode directe“ durch, also eine beschleunigte Brotherstellung ohne Sauerteig, nur mit Hefe, wie ein Dossier des Institut National de Recherches Agronomiques referiert. „Der Archetyp dieser Entwicklung“, schreibt Hubert Chiron darin, „ist die Baguette“.

So ein einheitsstiftendes Brot gibt es in Deutschland nicht. Ein Laib, der in Konstanz gebacken wird, ähnelt nach wie vor dem aus Stein am Rhein viel mehr, als einem würzigen niedersächsischen Katenbrot, ganz zu schweigen von dem in Westfalen liebevoll als Pumpernickel – also Furzkerl – beschimpften, fast schwarzen, feuchten Roggen-Kloben, der wie ein Plumpudding stundenlang im Wasserbad gekocht wird.
Japaner erwarten das Klebreis-Gefühl
Als Medium der Selbstvergewisserung funktioniert der Ausdruck „Deutsches Brot“ hingegen sehr gut, vor allem im Ausland: Er ruft die Erinnerung an die in Deutschland verbreitete, eigenartige kulinarisch-rituelle Erfahrung des gemeinsamen Abendbrots wach. Das wird bei den meisten traditionell mit Graubrot-Stullen bestritten.
Fernab der Heimat stillen ausgewanderte Bäcker die Sehnsucht danach, die mit dem Label „German Bread“ eine Nische für sich schaffen: In den Weiten Kanadas gibt es drei oder vier. In Vancouver hat eine davon Corona nicht überlebt. In Toronoto betreibt Zsuszanna Anderson aus dem Schwarzwald „Oma‘s German Bakery“. Und Oliver Hofer aus Heidenheim bäckt 1500 Kilometer weiter östlich, im Staat New Brunswick, schon seit 2003 Bio-Vollkornbrote. Aus der Stadt Dieppe ist „Oliver‘s German Bakery“ vor zehn Jahren ins Dorf Hillsborough gezogen. In einer stillgelegten Baptisten-Kirche war außer für Backstube und Verkaufsraum auch für eine eigene Mühle Platz, für den eigenen Roggen. Denn in Kanada ist gentechnisch verändertes Getreide verbreitet, und das Mehl wird üblicherweise mit Chlor gebleicht. Das wollte Hofer in seinem Brot nicht.
Sein Getreide selbst mahlen muss auch Benjamin Kowarsch ganz am anderen Ende der Welt. „In Japan gibt es keine Typenmehle wie in Deutschland oder Frankreich“, sagt der Autodidakt dem SÜDKURIER. Nicht nur den Sauer, auch seine Hefe züchtet er selbst, mit Rosinenwasser. Wie der frühere Ingenieur und Hilfskoch Kowarsch in Japan mit Zwischenstationen als Eats-Fahrradkurier und Bierausschenker auf den fast monatlichen Oktoberfesten Tokios zum Vollzeitbäcker wurde, ist ein Roman für sich. Seit 2024 hat seine „Bäckerei Boulangerie Benjamin“ eine feste Bleibe im Stadtteil Taito gefunden. Zu ihren Kunden zählt sie die deutsche Botschaft ebenso wie die Vereinigung der französischen Köche in Tokio.
„Bekkerai“ in Japan
Die Stadt hat fast genauso viele Einwohner wie das weitläufige Kanada. Aber nur eine Handvoll Betriebe wirbt hier mit deutschen oder deutschklingenden Namen für ihr Brot. Dabei war vor 100 Jahren das Wort „bekkerai“ in Japan die geläufige Bezeichnung für Bäckereien. Schon lange hat jedoch das französische Lehnwort „buhranjerie“ sie ersetzt. Und es gibt Vorurteile, nach denen deutsches Brot zu sauer wäre und hart. „In Wirklichkeit haben Japaner aber nichts gegen die komplexen Aromen eines Sauerteigbrots“, sagt Kowarsch. „Die entscheidende Rolle spielt das Mundgefühl.“ Heißt: Auch das Brot soll möglichst mochi-mochi sein, ein bisschen an Klebreis orientiert, weich also, und feucht.

Um dem gerecht zu werden, hat er experimentieren müssen. Er hat das Anstellgut, also den Sauerteig, der zugegeben wird, minimiert: Langsamere Fermentation erhöht die Feuchtigkeitsaufnahme. Überhaupt, die Zeit: Statt den Grundteig vier Minuten langsam, zwei Minuten schnell zusammenzukneten, werden die Zutaten und die Koch- und Brühstücke schonend gemischt. „Das dauert insgesamt 90 Minuten“, sagt Kowarsch.
Am Ende bestehen seine Teige aus ebenso viel Wasser wie Mehl, viel zu nass, um sie zu walken: Kowarsch dehnt und faltet sie in mehreren Intervallen manuell. „Tirage et pliage“ heißt die Technik, eine französische Methode. Gebacken ergibt das eine besonders tolle Kruste. Und eine Krume, die sich nur als saftig beschreiben lässt. Sieht eigentlich aus, wie ein deutsches Landbrot.
Geschärfter Blick
Im Ausland zu backen, das schärft den Blick für die Bedeutung der Zeit, für den Wert der Rohstoffe und ihre Reinheit. Sie ist entscheidend für eine Brotkultur. Und man kann nicht sagen, dass die deutsche Innung für die immer an vorderster Front gekämpft hätte. Sie einzufordern, das hat sie eher der Selbstbackbewegung, den Quereinsteigern wie dem Brotblogger Lutz Geißler oder Außenseitern wie dem Verein „Die Freien Bäcker“ überlassen, einer bundesweit aktiven, unabhängigen Berufsorganisation.
„Die Brotkultur ist schon vor langer Zeit durch den Einsatz von Convenience-Produkten, wie Vormischungen und von Verarbeitunghilfstoffen ins Straucheln geraten“, sagt Anke Kähler dem SÜDKURIER. Die Bäckermeisterin ist seit 2011 Vorsitzende des Vereins. Der vergibt seit Anfang des Jahres sogar ein eigenes Siegel für geprüft handwerkliche Herstellung von Brot und Backwaren. Ein langer Kriterienkatalog macht klar, was darunter zu verstehen ist. Die Grundidee: „Alle Herstellungsprozesse werden im Betrieb selbstständig ausgeführt“, erklärt Kähler.
Gegen die Fabriken hilft nur Qualität
Das klingt selbstverständlich. Aber das ist es eben nicht. Auch in Deutschland sind die meisten Mehle mit synthetischem Vitamin C und technischen Enzymen versetzt. Die verändern die Eigenschaften des Teigs so, dass die Knet- und Ausrollapparate besser mit ihm klarkommen. Eine Kennzeichnungspflicht für die gibt‘s nicht. Und vielleicht bekommen es sogar einige Bäcker nicht mit, wenn aus Gießkannenschimmelpilzen extrahierte Xylanase dafür sorgt, dass ihr Teig die Maschine nicht verklebt. Sie greifen auf das zurück, was ein extrem verengter Markt ihnen vorgibt: Während vor 100 Jahren in Deutschland 60.000 Mühlen Getreide mahlten, listet der Strukturbericht des Bundeslandwirtschaftsministeriums heute nur noch 174 aktive Betriebe. Von denen erzielen 30 einen Marktanteil von über 75 Prozent.
Wer keine Helferlein im Mehl haben, sondern auf sein eigenes handwerkliches Können setzen will, ist also auch in einer Diaspora-Situation. Er muss an ihnen vorbei kaufen. Das verlangt Wissen, erhöht den Zeit- und Arbeitsaufwand – und das muss das Brot verteuern. Aber über den Preis können die Handwerksbäckereien den Wettbewerb gegen die Backfabriken ohnehin nicht gewinnen. Sondern nur über den Geschmack, die Qualität – und eine Brot-Kultur, die den Namen verdient.