„Das, was in Staufen passiert ist, kann überall passieren.“ Der Konstanzer Jugendamtsleiter Alfred Kaufmann gibt sich da keinen Illusionen hin. „Aber wir können und müssen alles unternehmen, damit das nicht passiert.“ Staufen. Der malerische Ort südlich von Freiburg ist zu einem Synonym geworden für das Grauen, was man Kindern antun kann.

„Das, was in Staufen passiert ist, kann überall passieren. Aber wir müssen alles unternehmen, damit das nicht passiert.“ ...
„Das, was in Staufen passiert ist, kann überall passieren. Aber wir müssen alles unternehmen, damit das nicht passiert.“ Alfred Kaufmann, Leitung Jugendamt | Bild: Schuler, Andreas

330 sexuelle Übergriffe zur Last gelegt

Wegen hundertfachen sexuellen Kindesmissbrauchs muss sich ein ehemaliger Betreuer von Pfadfindern vor dem Landgericht Freiburg verantworten. Dem 42-jährigen Deutschen werden 330 sexuelle Übergriffe zur Last gelegt, wie Staatsanwältin Nikola Novak beim Prozessauftakt sagte. Der ehemalige Leiter einer evangelischen Pfadfindergruppe in Staufen habe sich von Januar 2010 bis August 2018 an vier Jungen vergangen. Diese waren damals 7 bis 14 Jahre alt. Gegenüber der Polizei habe er bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt.

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„Wir haben in Konstanz ein Grundkonzept, das seit 1980 steht“, sagt Alfred Kaufmann. „Das beginnt bereits bei den städtischen Kitas. Wir integrieren den Kampf gegen Kindesmissbrauch in unsere tägliche Arbeit.“ Markus Schubert, Leiter der Sozialen Dienste, bezeichnet die Philosophie und die Herangehensweise der Stadt Konstanz als „vorbildlich und fortschrittlich. So weit wie wir sind nicht viele Kommunen. Man darf ja nicht vergessen, dass in den 80er Jahren das Thema noch weitgehend tabuisiert war“.

„Die Herangehensweise der Stadt Konstanz ist vorbildlich und fortschrittlich. So weit wie wir sind nicht viele Kommunen.“ ...
„Die Herangehensweise der Stadt Konstanz ist vorbildlich und fortschrittlich. So weit wie wir sind nicht viele Kommunen.“ Markus Schubert, Leitung Soziale Dienste | Bild: Schuler, Andreas

Bereits damals habe man versucht, zwischen Kindern und Erziehern enge Bindungen aufzubauen, „denn wenn diese Beziehung gut, vertrauensvoll und intakt ist, offenbaren sich die Kinder vielleicht ihren Erziehern“. Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation geht für Deutschland von einer Million betroffener Mädchen und Jungen aus, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder erleben. Statistisch gesehen sitzen damit in jeder Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder.

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Kinder als eigene Persönlichkeiten

Sabine Haag von der Abteilung Tagesbetreuung berichtet von ihrer täglichen Arbeit. „Wir betrachten Kinder als eigene Persönlichkeiten“, erzählt sie. „Beispiel Wickeln: Wenn das Kind möchte, dass eine andere Erzieherin es wickelt, dann haben wir das zu akzeptieren.“ Kinder wüssten am besten, wann sie eine Bindung zu einer Bezugsperson eingehen möchten – und wann nicht. Männliche Erzieher dürften Kinder grundsätzlich nicht in abgeschlossenen Räumen wickeln. „Kinder müssen lernen, dass sie Grenzen setzen können“, so Sabine Haag. „Wenn ein Kind viermal sagt, dass es Spinat nicht mag, dann sollten wir das akzeptieren.“

„Ein Kind braucht nachweislich bis zu sieben Anläufe, bis es Hilfe bekommt. Auf dieser Strecke geben viele Kinder auf.“ ...
„Ein Kind braucht nachweislich bis zu sieben Anläufe, bis es Hilfe bekommt. Auf dieser Strecke geben viele Kinder auf.“ Maria Vrijdaghs, Theaterpädagogin | Bild: Schuler, Andreas

Verdacht? Frühzeitige Fachgespräche

Sollte der Verdacht auf Missbrauch bestehen, finden anonymisierte Gespräche mit den so genannten „insoweit erfahrenen Fachkräften“ statt. Diese Gespräche unterliegen der Schweigepflicht. 2019 gab es in Konstanz 40 solcher Anfragen beim Jugendamt, „wobei nicht immer gleich ein echter Fall vorliegt“, erklärt Markus Schubert. „Wichtig ist aber, dass möglichst frühzeitig die Fachgespräche stattfinden“, sagt Lena Bulski, Leiterin Kindertagesstätte Gustav-Schwab.

„Es ist unser tägliches Brot, das Thema Kindesmissbrauch in den Alltag einzubetten. Das zieht sich komplett durch.“ Lena ...
„Es ist unser tägliches Brot, das Thema Kindesmissbrauch in den Alltag einzubetten. Das zieht sich komplett durch.“ Lena Bulski, Leiterin Kita Gustav-Schwab | Bild: Schuler, Andreas

Niemals unkoordiniert und unüberlegt

Grundsätzlich gilt laut Leitfaden des Jugendamtes: Überlegtes und strukturiertes Vorgehen in Fällen von Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ist der erste Schritt für einen wirksamen Schutz für die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Unkoordinierte Handlungen und unüberlegtes Vorgehen können eine zusätzliche Gefährdung darstellen, die Gesamtsituation verschlimmern oder notwendige Hilfe verhindern.

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An allen Konstanzer Schulen ist die Sozialarbeit vertreten. „Die Schulsozialarbeit versteht sich als eine Brücke“, so Sachgebietsleiterin Michaela Jonasson. Eine Brücke zwischen Schule, Schülern und dem Privatleben. „Wir bieten auch Selbstbehauptungskurse an. Jeder Konstanzer Schüler soll das Gewaltpräventionsprogramm durchlaufen haben. Wichtig sei, dass die Kinder wissen, wer ihre Vertrauensperson ist. „Wir haben immer ein offenes Ohr, haben immer Zeit, sanktionieren nicht und nehmen die Ängste und Sorgen ernst“, erklärt Michaela Jonasson.

„Wir haben immer ein offenes Ohr, haben immer Zeit, sanktionieren nicht und nehmen die Ängste und Sorgen ernst.“ Michaela ...
„Wir haben immer ein offenes Ohr, haben immer Zeit, sanktionieren nicht und nehmen die Ängste und Sorgen ernst.“ Michaela Jonasson, Leitung Schulsozialarbeit | Bild: Schuler, Andreas

Außerdem sei die Schweigepflicht Gebot. In Grundschulen und Realschulen kommt auf 450 Schüler ein Sozialarbeiter, in der Werkrealschule einer auf 250, in der Gesamtschule einer auf 350 sowie im Gymnasium einer auf 1500. „Wir gehen davon aus, dass in den Hauptschulen mehr Kinder bedürftig sind und das im Gymnasium die Eltern eher selbst tätig werden und es weniger Probleme gibt“, so Markus Schubert.

Nachhaltiges Konfliktmanagement

Michael Erpenbach ist Geschäftsführer der Firma Synergie, die im Auftrag der Stadt als Jugendhilfe an den Schulen tätig ist. „Wir entwickeln Strategien im Konfliktmanagement, beispielsweise anhand von Rollenspielen“, erklärt er. „Klassenlehrer und Schulsozialarbeit sind immer dabei. Wichtig sind nachhaltige Systeme. Wir sind keine Blackbox.“

„Wir entwickeln Strategien im Konfliktmanagement, beispielsweise anhand von Rollenspielen.“ Michael Erpenbach, Psychologe
„Wir entwickeln Strategien im Konfliktmanagement, beispielsweise anhand von Rollenspielen.“ Michael Erpenbach, Psychologe | Bild: Schuler, Andreas

Sein Unternehmen versteht sich als „Vermittlungsstelle zwischen Schülern, Eltern, Lehrern und Schulleitung“. Maria Vrijdaghs gehört der Theaterpädagogischen Werkstatt Osnabrück an, die an Konstanzer Schulen das Programm „Mein Körper gehört mir“ aufführt. Grundschulkindern soll spielend erklärt werden, dass sie sich nicht alles gefallen lassen müssen. Dass es in Ordnung sei, Nein zu sagen.

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„Ein Kind braucht nachweislich bis zu sieben Anläufe, bis es Hilfe bekommt. Auf dieser Strecke geben viele Kinder auf.“ ...
„Ein Kind braucht nachweislich bis zu sieben Anläufe, bis es Hilfe bekommt. Auf dieser Strecke geben viele Kinder auf.“ Maria Vrijdaghs, Theaterpädagogin | Bild: Schuler, Andreas

„Ein Kind braucht nachweislich bis zu sieben Anläufe, bis es Hilfe bekommt“, erzählt die Schauspielerin, die selbst Mutter ist. „Auf dieser Strecke geben viele Kinder auf, weil sie denken: Wir werden ja eh nicht ernst genommen.“ Die Vision sei es, Kindern Strategien an die Hand zu geben. „Wir wollen Kinder auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben unterstützen“, sagt Maria Vrijdaghs. „Mittlerweile konnten an diesem Programm über zwei Millionen Grundschulkinder teilnehmen.“

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Lena Bulski berichtet aus ihrem Alttag: „Wenn das Thema Geschlechtsteile aufkommt, greifen wir das auf“, sagt sie. „Wir haben spezielle Bilderbücher dafür.“ Solche Fragen stehen im Mittelpunkt: Wo darf ich angefasst werden? Wo will ich angefasst werden? „Durch die Bilderbücher kommt es zu einem unterschwelligen Kontakt mit dem Thema.“ Sie als Kita-Leiterin bezeichnet es als „tägliches Brot, das Thema Kindesmissbrauch in den Alltag einzubetten. Das ist bei uns keine einmalige Sache, das zieht sich komplett durch“. Anschlussfähige, systematische Präventions- und Bildungsarbeit sei ratsam. „Unsere Konzepte bauen aufeinander auf“, so Michaela Jonasson von der Schulsozialarbeit.

Bild 8: Wie ermuntert man Kinder, nein zu sagen? Konstanzer Experten erläutern, wie sie versuchen, Kindesmissbrauch zu verhindern
Bild: Schuler, Andreas