Jean-Pierre Blanchard, der 1806 verstarb, ist der erste Mensch, dem die Überquerung des Ärmelkanals mit einer Ballonfahrt gelang. Berühmt machte ihn die Erfindung des Fallschirms, aus dem Grunde, als beim ersten Versuch mit Fallschirm ein schwebender Hund als Versuchsobjekt am Schirm zur Erde gleiten musste: Die Welt dachte, der Hund könne fliegen.

Mit Fallschirm und Ballon bespielte Jean-Pierre Blanchard an Hundes statt anschließend die Jahrmärkte dieser Welt selbst, schwebte im Ballon selbst, sprang auch mit dem Fallschirm selbst. Eine neue Attraktion war geboren, weil die Augen der Betrachter einen Menschen bestaunten, über sich am Horizont, also außerhalb der Welt, der ein neues Hochamt vollzog, den Horizont zu überwinden.

Bühne des Schicksals

Bei einer solchen Überwindungs- und Kirmesfahrt betrat nun leider auch zum ersten Mal das Luftfahrtunglück die Bühne des Schicksals: Um nicht abzustürzen, weil der Ballon durch ein Loch in der Ballonhaut Auftrieb verlor, musste Blanchard den Korb abwerfen, auch die Kleider, bis auf die Unterhosen, und er und sein Begleiter retteten sich in die Seile, um dann nackt zwischen johlenden Betrachtern zur Erde zu stürzen. Schade, dass hierbei kein Maler zugegen war. Das ewige Gejohle über den einstürzenden Ikarus hätte die Farben herausgefordert. Er überlebte.

Dieser missratene Auftritt, bei dem man sich in die Unterhosen rettet und in den Seilen hängt, beschreibt in seiner bildhaften Sprache die kommende Welt der künstlichen Intelligenz. Der Auftrieb des menschlichen Geistes endet, und wir werden nichts retten als unsere nackte Haut.

Im selben Gefühl wie damals erhebt sich ein Ereignis über uns, das wir von unten bestaunen, nicht fähig teilzuhaben, und doch sind wir teilhabend. Wir folgen mit fernen Blicken den neuen Hunden am Fallschirm unter den Wolken, wie sie zur Erde fallen, und verstehen nicht, was exakt geschieht.

Enkel in angeblich großer Not

Künstliche Intelligenz (KI) wird auch das Verbrechen verändern ebenso wie die Artikel, die darüber berichten. Es wird die Justiz ändern und das Strafen. Der kommende wahre Fall, den ein Autor lange nach mir dem SÜDKURIER berichten wird, wird hoffnungsloser sein.

Stellen wir uns ganz einfach das zukünftige Verbrechen vor, den zukünftigen wahren Fall, einen von der KI beschleunigten Enkel- und Polizistenbetrügerfall, um die Wirkung von KI im kriminellen Bereich zu verstehen. Die Enkel-Masche blüht bereits heute in unkontrollierbaren Strukturen, und Menschen mit alten Vornamen, weil sie Hans und Gertrude heißen, sind deren Opfer. Die Alten, die angerufen werden, fallen auf Stimmen herein, die vorgeben, Enkel oder Nichten in großer Not zu sein.

Solche Nachrichten hat inzwischen fast jeder schon mal bekommen. In Zukunft werden die Betrüger jedoch ausgefeiltere Tricks präsentieren.
Solche Nachrichten hat inzwischen fast jeder schon mal bekommen. In Zukunft werden die Betrüger jedoch ausgefeiltere Tricks präsentieren. | Bild: Sebastian Gollnow

Ein Anrufer simuliert eine Notlage, die überforderten Alten geben ihre Lebensleistung für eine versprochene Rettung. Den Anrufer nennt man Keiler, Kurier denjenigen, der das Beutegut vor der Türe abholt. Die Kuriere werden hart bestraft, wie die Kuriere in den Drogengeschäften, aus dem Grunde, dass man der Hintermänner nicht habhaft wird.

Das schwächste Glied haftet für das Ganze. Meist sind die Kuriere dumme Narren, die auf Geschwätz hereinfallen und nicht reflektieren. Die Hintermänner sitzen meist in Polen oder in der Türkei, und der fremde Staat wirkt wie ein Schutzschild gegen Ermittlungen.

Täuschend echte Menschen

Diese Organisationen wird es in Zukunft nicht mehr brauchen. Eine App übernimmt das Sondieren aus dem Netz, filtert die manipulierbaren Senioren heraus, und der Angriff auf deren Vermögen wird maßgeschneidert sein.

Statt der Stimme erscheint auf dem Bildschirm der Alten das Bild der Verwandten, etwa die Enkelin mit tränengefüllten Augen. Ihre Stimme wird irgendwo aus dem Netz aufgefangen sein und von einem Sprachcomputer verwendet, der, von der KI programmiert, die Stimme des fiktiven Opfers bis in den Dialekt hinein täuschend echt simuliert. Die Großeltern zu Hause werden Polizeiräume auf dem Bildschirm sehen oder Zollstationen oder Krankenhäuser, und in dieser Szene einen weinenden Menschen, den sie lieben. Der Schock wird größer und perfekt.

Gerhard Zahner
Gerhard Zahner | Bild: Fricker, Ulrich

Selbst ein Rückanruf, davon müssen wir ausgehen, hat keine Kontrollfunktion, er wird abgefangen und beantwortet von der Fiktion, die im Bildschirm spricht. Das Übel ist, man weiß nicht, ob es bereits jetzt geschieht.

Ich kenne kein Programm, keine Information, die davor warnt, wo und wie die künstliche Intelligenz für den Missbrauch eingesetzt wird. Das wird wirklich tragisch sein, im Sinne der Ausweglosigkeit: Die Alten werden begreifen, dem Schicksal nichts entgegenzusetzen zu haben. Man wird dem Telefon gegenüber misstrauisch. Dem Bildschirm auf dem Rechner zu Hause, dem Tablet. Man wird verstärkt der Wirklichkeit misstrauen, sich zusätzlich abschotten, so wie es wehrlose Tiere tun und sich in den letzten Winkel verkriechen.

Verloren im Dunkelwald

Der großen Organisation bedarf es nicht mehr. Rechner mit Stimmen der Opfer erledigen die Anrufe, die Analyse der Schwäche erledigt ein Programm, das Daten sammelt und auswertet. Es wird sich vereinfachen für die Täter, und für die Opfer wird es ein Dunkelwald sein, den sie nie verlassen, wie ausgesetzt. Man kann die Methode tausendfach an einem Tag einsetzen, der Multiplikation stehen keine Grenzen entgegen. Hänsel und Gretel sind alte Namen und genauso gefangen, erzählt sich das Märchen neu.

Ich habe die Methode der Ekelbetrüger so oft verteidigt, um die Wirkung von Worten und Bildern auf Menschen in ihrer Gänze zu verstehen, wenn falsche Vorstellungen Seelen zerstören, wie Borkenkäfer einen Wald. Denn in Zukunft wird es schlimmer, was auch sonst. In Zukunft wird nicht nur eine Stimme am Telefon die alte Frau dort einschüchtern, sie wird ihren Engel am Abgrund sehen, leibhaftig, und dafür bezahlen. Dies hat bereits jetzt begonnen.

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Daten über Opfer werden durch Banden aus dem Netz ausgelesen, das Gedächtnis von Instagram leiht die Melodie der Stimme und Tiktok den Satzbau. KI, das wissen wir schon heute, hat eine Liebe zum Detail. Mit der Peitsche der Liebe, wie in E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“, beherrschen sprechende Puppen die Ahnungslosen, das sind meist die Alten, die alles zu verlieren haben und deren Liebe keine Grenze hat. Im zukünftigen wahren Fall wird der Schreiber die Wirklichkeit verfluchen, weil sie nicht von der manipulierten Realität unterscheidbar ist. Damit zerfallen die Begriffe von Opfer und Täter, man steht nur noch auf der einen oder der anderen Seite.

Es wird KI-Programme geben, in denen KIs Betrüger erfinden, die uns betrügen. Der Betrug ist wie die Katze, die ihren Schwanz jagt: Er dreht uns bis zur Erschöpfung. Ein Schauspieler, sei er der Beste, kann einem Rechner nichts vormachen, umgekehrt schon.

Computer als Schauspieler

Wir begreifen, dass unsere Computer eigentlich Schauspieler sind, deren Stücke wir nicht kennen, obwohl wir mitspielen. Wir begreifen nicht, dass Schwitzen und Angsthaben für die andere Seite nur ein Spiel ist. Es bedarf weniger Skrupel, so eine Geschichte anzuleiern, denn das meiste geschieht automatisch durch das Programm.

Der Schreiber des zukünftigen wahren Falles wird ein zweites Beispiel bemühen, um seine Geschichte der Veränderung zu illustrieren. Die Justiz wird die Strafen anziehen, weil, unabhängig von der persönlichen Schuld, jeder Angeklagte, meist die kleinen Kuriere, für das Ganze haftet. Man lässt Menschen dann für die Möglichkeit des Missbrauchs der KI haften und die Idee des Strafens wird aus der gesamten Wehrlosigkeit neu justiert.

Tatsächlich teilt die Gesellschaft sich in Opfer und Täter, und nur wer es im Alter schafft, allein zu leben, ohne dass ein Anruf ihn erreicht, ist vor Anschlägen sicher. Wir sind wie der erste Hund, der am Fallschirm zur Erde schwebt. Wenn die Welt selbst nicht zu teilen und erklärbar ist, tanzen die Geister auf dem Tisch. Wer die Wirklichkeit nicht mehr sicher erkennt, verliert die Lust zu denken. Das schreibt der Schreiber in zehn Jahren. Und der wahre Fall ist dann auch nur eine Illusion.