Als A.s Leichnam durch die Gerichtsmedizinerin untersucht wurde, kämpften Ärzte im nahen Krankenhaus um das Leben seines Zwillingsbruders, der, durch Messerstiche getroffen, zu verbluten drohte. Der Bruder überlebte wie durch ein Wunder, A. starb mit 22 Jahren. Erstochen.

Er wollte Profi-Bodybuilder werden, und seine Haut trug deshalb keine Tattoos, die Obduktionsmappe beschrieb nüchtern den Stichkanal. Sein Vorbild sei Arnold Schwarzenegger gewesen, wusste die lokale Zeitung zu titeln, sie beschrieb die definierten Muskeln des Bodybuilders als Rüstung, die gegen das Außen schützen sollte. Dem Messer war die Panzerung keine Hürde. A. hätte sicher die Bodybuilderszene Deutschlands aufgemischt. Ein auffallend schöner Mann. Er wurde, ohne den Ruhm zu ernten, beigesetzt.

Die Tatwaffe wurde nie gefunden

Es erzählt sich leichter über die Toten, wenn man den Schmerz vergisst. Nichts kann man schreiben, wenn man schreibt. Leere wiederholt sich leer. Das Unscheinbare, das nicht zu Verstehende, wird nicht geschrieben, wird nicht besprochen, wird nicht deutlicher. So wird es auch diesem Artikel ergehen. Vielleicht beten deshalb Menschen, es befreit von dem Reflex, alles darstellen zu müssen, um den Sinn aus den Nebeln des Daseins zu befreien.

Während A. obduziert wurde, sein Bruder operiert, sicherten Beamten den Tatort in Esslingen. Rotweiße Flatterleinen trennten plötzlich den öffentlichen Raum. Die Polizeifotografen suchten in der Sprache kalter Bilder Antworten für das Verbrechen am Ort des Geschehens.

Diese Art von Bildern unterscheidet nicht zwischen einem Stein und einem Steinwurf, zwischen Himmel und Erde, zwischen Messer und Blut, sie zeigen nur den Unterschied, zwischen vorher und nachher. Durch das Verbrechen hatte sich der Ort für immer verwandelt. Er ist jetzt der Ort, wo es geschah. In einer Kneipe begann es. Dort fotografierten sie auch.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Musik in der Kneipe kann man nicht fotografieren, sie ist den Seelen am nächsten. Aber der umgestürzte Tisch ist ein Zeichen. Zerbrochene Gläser bedeckten den Boden. Dort die Ausgangstür, durch die A. nach draußen gerannt ist. Dort das Trottoir, auf dem die Auseinandersetzung in Esslingen zwischen zwei rockerähnlichen Gruppen zum Tod von A. führte. Dort die Konturzeichnung mit Farbkreide auf dem Asphalt, dem Toten abgemalt. Dort Blut. Blutlache. Bluttropfen. Blut. Kein Bild der Tatwaffe, sie wurde nie gefunden. Dort standen Autos. Dort Zeugen.

Schreie und Wut kann man nicht fotografieren, sie sind unsichtbar. Die Schreie immer zu spät und die Wut immer zu früh. Würde man Schreie und Wut abbilden können, die Welt wäre von ihrer Maske bedeckt, wie ein freies Feld vom ewig frischen Schnee, aus einer ewig kalten Nacht.

Eigentlich hatte der Streit keinen Grund. Acht Männer besuchten das falsche Lokal, das genügte für einen Krieg. In Esslingen am hellen Tag und vor diesem Lokal, inmitten der Stadt, schlugen und stachen zwei Männergruppen aufeinander ein, circa 20 auf der einen, circa 8 auf der anderen Seite. Einer starb, sechs blieben schwer verletzt am Boden, dies versetzte auch die Stadt in einen Schock. Die Helfer leisteten Übermenschliches.

Da die Kapazität an Schockräumen in den Krankenhäusern begrenzt ist, hatte der leitende Notarzt noch am Tatort nach der Schwere der Verletzungen die Reihenfolge zu bestimmen, in der die Schwerverletzten den Schockräumen zugeführt wurden. Triage ist der Begriff für eine unfassbare Aufgabe.

Die Arterie war zerfetzt

Ich beobachtete diesen Arzt später im Prozess, wie er seinen Prozess der Entscheidungen darlegte und dabei mehr in sich als zu dem Vorsitzenden aufsah. Als Augenblicksentscheidung hatten Gewissen und Wissen zu bestimmen, wer vorrangig zu retten war. Der eine Zwillingsbruder hatte eine Chance, der andere Zwillingsbruder nicht, beide Opfer desselben Angriffs.

Die in den Körper eingedrungene Stichwaffe hatte eine Arterie des Bodybuilders zerfetzt, er verblutete am Tatort. Als der Arzt ihn am Tatort untersuchte, hatte der Todesprozess bereits eingesetzt. A. war mit sechs Freunden und seinem Zwillingsbruder in Esslingen unterwegs gewesen, sich zu zeigen, zu provozieren, zu feiern, zu langweilen, abzuhängen, zu chillen, als seine Gruppe auf eine verfeindete traf, vollends aufgeklärt wurde es nie.

Gerhard Zahner ist Anwalt und Buchautor.
Gerhard Zahner ist Anwalt und Buchautor. | Bild: Fricker, Ulrich

Selbst die Akte tat sich schwer, das ganze Ausmaß zu begreifen. Einer der Zwillinge tot, einer kämpfte mit dem Leben und die Nachricht über das Ereignis wurde der Mutter überbracht, als lange nicht klar war, dass ein Sohn wenigstens durchkommen würde. Was mutet dieses Leben Müttern zu, Sinnlosigkeit zu ertragen.

Vor Jahren lachte ein Mandant in meinem Büro auf und erläuterte, warum er nie einer Rockergruppe beitreten wird. Ich trage doch nicht meinen Personalausweis auf dem Rücken. Gemeint war das Patch, das die Zugehörigkeit zu einer Gruppe preisgibt. Das falsche Patch im falschen Stadtteil, die Zugehörigkeit zu einem Chapter kann über Leben und Tod entscheiden, so war es hier.

Mitglieder werden zahlreicher und jünger

Von Skandinavien, wie eine Seuche, breiten sich seit 20 Jahren die schrankenlosen Revierkämpfe zwischen Rockergruppen über ganz Europa aus und die Kämpfe füllen Krankenhäuser und Gerichtssäle. Dabei kenne ich keine Menschen, die sich ähnlicher sind als Rocker, auch wenn sie verschiedenen Charters angehören.

Die in Esslingen sich bekämpften, stammten aus Cannstatt, Esslingen, Böblingen, hatten kurdische und türkische Wurzeln, teilten eine krude Philosophie der Brüderlichkeit, was genügte, sich selbst ins Gefängnis und A. um sein Leben zu bringen.

Das könnte Sie auch interessieren

Sie entstammen denselben öden Mietstraßen, denselben Fußballvereinen, wo die Träume größer als die Talente sind, besuchten dieselben brüchigen Schulen und die Entscheidung in dieser oder jener Gruppierung als Member einzutreten, lag im Zufallswurf. Manche wechselten mehrmals das Chapter, trugen zuerst die Abzeichen von denen, dann der anderen.

Die Vereinigungen, die in Esslingen vor der Kneipe sich bekämpften, sind heute verboten, der Streit geht unter anderem Namen weiter, die Mitglieder werden zahlreicher und jünger. Bald werden Kinder mit Gewehren aufeinander schießen, ohne zu wissen warum.

Brüderlichkeit existiert nur durch das Feindbild

Ein Teil ihres Hasses gilt dem eigenen Leben, das sich in dem Andern spiegelt. Städte, die junge Männer zwingen, immer ähnlicher zu leben, erziehen sie zur Gewalt. Freund und Feind zu unterscheiden, ist die einzige Wahl, die ihnen bleibt. Leben heißt scheitern. Ohne das Feindbild der anderen Gruppe würde die falsche Brüderlichkeit nicht existieren können, die die Familien ersetzt, Beziehung, Freiheit.

Mancher glaubt daher, im Fahrtwind einer Harley die Freiheit zu finden, dabei atmet er nur die Abgase derer, die vor ihm fahren. Zu erwähnen, dass Rocker mit Migrantenwurzeln nicht selten kein Motorrad besitzen, ja es nicht einmal fahren wollen.

Aus juristischer Sicht ist der Fall von großer Bedeutung für mich, weil er zeigt, dass Gerechtigkeit zwar der Atem der Seele ist, aber wir vor Gericht nicht immer dieselbe Luft atmen. 20 Täter wurden an drei Kammern gleichzeitig für den identischen Sachverhalt angeklagt und verurteilt. Weil Jugendliche und Heranwachsende gemischt mit Erwachsenen die Täterschaft abbildeten, ergab sich eine differenzierte Zuständigkeit vor verschiedenen Kammern am Landgericht Stuttgart.

Das könnte Sie auch interessieren

Wir verhandelten in Stammheim, den in Paranoia gegossenen Gerichtssaal, vormals an das Gefängnis Stammheim, speziell für die RAF-Prozesse angebaut. Das Tageslicht dringt durch die schmalen Schächte ein und hat eine Anmutung von Plastik, die Akustik verschluckt jedes Wort, soweit es nicht vom Mikrofon getragen wird. Die eigene Stimme ist ein fernes Ding.

Da alle zwanzig Angeklagten, verteilt auf drei Verfahren, schwiegen, die Tatwaffe nie gefunden wurde, ein gemeinsamer Tatplan nicht nachweisbar war, der Täter, der gestochen hatte, nicht ermittelt werden konnte, alle also auf eine Art nur dabei waren, sollten man meinen, die Urteile bildeten denselben Unrechtsgehalt ab.

Bei zwei Kammern lautete das Urteil auf Körperverletzung mit Todesfolge, weil der Vorsatz für die Tötung nicht nachweisbar war. Bei gleicher Beweislage verurteilte eine dritte Kammer des Landgerichtes einen Angeklagten wegen Mordes. Das Gericht wertete die Beweise im Sinne der lebenslänglichen Haft, und hätte der Bundesgerichtshof das Urteil nicht aufgehoben, dieser Verurteilte säße noch immer im Gefängnis. Seine Mutter ist bei der Urteilsverkündung im Gerichtssaal zusammengebrochen. Alle sind inzwischen frei.