Er war zum Hauptverhandlungstermin beim Amtsgericht Konstanz wiederholt nicht erschienen, also drohte ein Sitzungshaftbefehl. Er würde in Haft genommen werden und bis zum nächsten Verhandlungstermin dort verbleiben, um die Durchführung der Verhandlung zu sichern. Nichts ist nachteiliger für eine Strafverhandlung, als wenn der Angeklagte aus der Haft vorgeführt wird.

Bekannte hatten ihm weisgemacht, sein Prozess würde im Gefängnis und mit der Abschiebung enden, so steckte er den Kopf in den Sand. Ich bat das Gericht um einen letzten Aufschub von einer halben Stunde, erreichte ihn unter der Nummer seiner neuen Freundin, einer selbstbewussten jungen Frau, der es gelang, ihn zu beruhigen, so erschien er, von ihr begleitet, in der Halbstunden-Frist vor Gericht, das Urteil war milde, er blieb frei.

Vielleicht wäre er noch am Leben

Wenige Tage später war er tot. Erstochen. Hätte die Polizei den Sitzungshaftbefehl vollstreckt und ihn in die JVA verbracht, hätte er die Wochen dort abgesessen bis zur nächsten Verhandlung, er wäre noch am Leben. Vielleicht hätte ich diesen Job nur nachlässiger machen sollen, er wäre noch am Leben. Die Nummer seiner neuen Freundin hatte ich nur aufgeschrieben, weil ich irgendwie ahnte, ihre Hilfe zu benötigen.

Der, von dem ich rede, war schlank, groß, dunkle lockige Haare, mit einem wie ewig lachenden Mund. Ein schmales Gesicht und Hände, die Worte wie Jonglierbälle in der Luft halten konnten. Die Augen schwarz. Ich sehe ihn noch vor mir in seinem dünnen, rotbraunen Anzug mit den feinen Karos und weißen Turnschuhen, im Stil junger Männer, die vorgeben, ihnen würde alles gelingen, wäre da nicht die Angst.

Erstochen wurde er im Schatten der Dreifaltigkeitskirche in Konstanz, von der Rosgartenstraße kommend. Dort traf er auf den Freund, der ihm das kleine Messer in den Hals rammte. Er verblutete, der Stich durchtrennte die Halsschlagader. Die Zeugin beschrieb, wie er im Schatten der Kirche auf und ab lief, das Blut zwischen den Fingern hervorspritzte, die den eigenen Hals umklammerten, bevor er sich auf dem Platz niedersetzte und dann verstarb.

Der Notarzt konnte ihn nicht retten, niemand konnte ihn retten, diese Verletzung war tödlich. Die Zeugin machte sich Vorwürfe. Sie hatte den Streit zwischen den Männern am hellen Tag wahrgenommen und war als Einzige dazwischengetreten. Und als sie auf den einen einsprach und ihn damit ablenkte, stach der andere zu. Ohne die mutige Intervention wäre er noch am Leben.

Gerhard Zahner, Rechtsanwalt in Konstanz, schreibt auch Kriminalromane.
Gerhard Zahner, Rechtsanwalt in Konstanz, schreibt auch Kriminalromane. | Bild: Eva Marie Stegmann

Ich vertrat die Nebenklage seiner Eltern gegen den Täter, juristisch kein schwieriger Fall, für die Eltern nicht zu begreifen. Die Anklage lautete auf Totschlag, da sie davon ausging, der Vorsatz, das Messer im Streit zu benutzen, sei erst während des Kampfes zwischen beiden erwacht und die Tötung billigend in Kauf genommen worden. Ich hatte Zweifel, aber keine Beweise. Ich sah niedere Beweggründe, also Mord.

Die jüngere Schwester des Toten, die in Belgien wohnte, war zum Prozess angereist. Er dauerte mehrere Tage. Das Urteil lautete wie erwartet auf Totschlag. Das Gericht verließ den Sitzungssaal nach Verkündung wie immer zuerst, wir hatten uns für das Urteil alle erhoben. Der Zuschauerraum war stark gefüllt.

Sie umarmt den Mörder ihres Bruders

Der Angeklagte wurde Augenblicke später von Justizbeamten auf den Weg gebracht, dort zur hinteren Nebentür, zu dem Seitenflügel, wo der Transporter zum Gefängnis wartete. Bevor er die Tür erreichte, drängte sich plötzlich aus dem Zuschauerraum die Schwester des Opfers nach vorn, den Angeklagten ruhig zu umarmen. Die Justizbeamten waren zu überrascht, es zu verhindern.

Es war eine freundliche Umarmung, so als verstünde sie, dass dieses Leben keine andere Geste übrig hat, als eine Umarmung mit dem Mann, den sie wahrscheinlich am meisten hasste, der ihren Bruder getötet hatte. Sie und ich hatten zuvor den Fall besprochen, und ich kannte das Gewicht ihres Verlustes.

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Was ich aus den Vorbesprechungen wusste: Sie liebte ihren Bruder über alles. Seine Leichtigkeit, dieses Lachen, diese Hoffnung, die er verbreitete, und dass er sie auf die Flucht in ein neues Leben nach Europa über das Mittelmeer mitgenommen hatte, wie auch den Freund, der ihn ermordete.

Die Umarmung zwischen beiden sagte nicht, ich vergebe dir, sie sagte in etwa: Dieses Leben ist wahrscheinlich zu hart für uns alle. Beide redeten kein Wort. Sie hielt ihn einen Augenblick im Arm, nicht länger als einen Atemzug, wandte sich dann ab, ohne seinen Blick zu erwidern.

Eine Umarmung zum Abschied

Sie war aus dem Zuschauerraum aufgestanden und ihm entgegengekommen. Seine Hände und Füße waren geschlossen, er konnte nichts tun, als sich umarmen zu lassen, sein Kopf neigte sich zu ihr als Antwort. Als gäbe es eine Substanz, eine letzte Substanz, die durch nichts zu zerstören ist, hatten sich beide verabschiedet, die eine Reise ins Leben hinter sich hatten, vielleicht eine Beziehung, ich weiß es nicht. Durch die hintere Tür verließ er den Gerichtssaal, ich sah ihn nie wieder.

Der Getötete, seine Schwester und der Angeklagte entstammten demselben Land in Nordafrika, waren aus derselben Stadt nach Konstanz geflohen, zur selben Zeit. Die Anträge auf Asyl scheiterten für alle drei gleichzeitig, sie fand eine Ehe in Belgien, floh dahin, die beiden Männerfreunde blieben in Konstanz zurück, hatten auszureisen und kämpften weiter.

Grund des Streits ist eine Frau

Dem einen gelang es endlich, eine junge Frau kennenzulernen, die auch noch Ros hieß, sie würde ihn heiraten, dachte er, und sein Denken hoffte zu bleiben. Aber Ros war zu selbstbewusst, sie konnte wie eine Carmen Gefühle revidieren. Ros hatte sich in den andern verliebt, in den jungen Mann, der auf der Straße verblutete. Das war der Grund des Streits zwischen den Männern. Sie verließ den Täter, um mit seinem Freund zu leben, nach meiner Auffassung hatte er ihn deshalb getötet.

Die Schwester des Opfers, der Angeklagte und mein Mandant, dem ich den Sitzungshaftbefehl ersparte, flohen gemeinsam nach Deutschland, ein neues Leben zu beginnen. Flucht über das Mittelmeer, Spanien, Italien, die Route der Tränen und Menschenverluste, die Gewöhnung an Angst und der Verlust an Werten, ideellen und materiellen, das lag hinter ihnen.

Migranten sitzen in einem Holzboot im Mittelmeer. (Archivbild)
Migranten sitzen in einem Holzboot im Mittelmeer. (Archivbild) | Bild: Francisco Seco/AP/dpa

Aber sie kamen ins Wunder und hatten weiß Gott vom Leben erlebt und zu dritt durchgestanden, mehr als ein Menschenleben tragen kann. Letztlich den juristischen Aufenthalt zu erhalten, ist eine Qualität, die alles noch einmal infrage stellt, die Vergangenheit und Zukunft neu justiert, der Aufenthalt regiert absolut und radikal mit dem Atem des Despoten. Eine Freundschaft zählt dagegen nichts.

Bis auf die letzte Substanz, die sich in dieser Umarmung äußerte, hatte der Angeklagte am Ende alles verloren, auch sein Leben. Er reiste für ein neues Leben nach Europa, er würde als Toter in sein Heimatland zurückkehren, denn das neue Leben blieb zurück.

Mord aus niederen Beweggründen

Den Freund, so wie ich es glaube, schickte er deshalb voraus. Er wollte nicht allein reisen. Deshalb war es für mich Mord, es waren niedere Beweggründe, allerdings für manche für uns in einer niederen Zeit. Denn solche Kämpfe um die Ausnahmen von der Regelung der Ausweisung sind barbarisch. Sie zwingen zu Lügen, Verrat und Scheinwelten.

Das Opfer dieser Tat wurde in einem Sarg im Flugzeug seinen Eltern überbracht und dort beigesetzt. Der Angeklagte wird aus der Haft nach sieben, acht Jahren abgeschoben werden, das Flugzeug in Handschellen besteigen, um dort anzukommen, wo sein Freund auf dem Friedhof liegt, das wusste ich schon damals.

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Ich sah kein Bedauern in seinem Gesicht in den vier Tagen des Prozesses, sein Blick war leer, so wie jemand blickt, der nichts vor sich sieht, der alles hinter sich hat. Nur nach der Schwester des Opfers hob er bei ihrem Erscheinen im Saale freundlich die Hand, freundlich, als er sie im Zuschauerraum erblickte, als das Einzige, was er anerkannte, als sei nichts weiter zu tun. Wir wissen nicht, was dahinter liegt, bis wir selbst die Grenzen überschreiten. Wenn die Toten reisen, das ist kein Stück aus dem Leben.

Aus solchen Stoffen beginnt man über eine Oper nachzudenken, will man es aufschreiben, denn wo die Worte versagen, mag die Musik den Schmerz befragen. Der Freund hatte dem Freund nicht nur die Liebe, sondern den Aufenthalt genommen in unserer Zeit ein Mehr an Gefühl.