Am Mittwoch des 17. Juli 1985 verlässt die Tochter eines Polizeibeamten gegen 18.30 Uhr die elterliche Wohnung in der Schwabstraße und will für ihren Papa Zigaretten aus einem Automaten am Rosenbergplatz ziehen. Dieser war gerade mal gut 50 Meter von ihrem Zuhause entfernt, der Weg dorthin war ihr auch vertraut. Es war der Weg zu ihrer Schule – der Schwabschule im Stuttgarter Westen. Nach ein paar Minuten hätte sie zurück sein müssen.

Die Eltern machten sich zunächst keine Sorgen. Vielleicht hatte Sabine unterwegs eine Freundin getroffen und war aufgehalten worden. Daher fuhr der Kollege zunächst zum Nachtdienst. Aber die Sorgen und die Unruhe der Eltern nahmen rasch zu, und nachdem der besorgte Vater sich zunächst selbst kümmerte, verständigte er gegen 20.30 Uhr offiziell die Polizei.

Noch in der Nacht zum 18. Juli startete eine der größten Suchaktionen, die die Polizei in der Landeshauptstadt bislang gesehen hatte. Als ich an dem besagten Donnerstagmorgen zum Dienst kam, spürte man schon beim Betreten des Gebäudes, dass irgendetwas passiert sein musste.

Gerd Stiefel war zehn Jahre Kripochef im Landkreis Konstanz.
Gerd Stiefel war zehn Jahre Kripochef im Landkreis Konstanz. | Bild: Fricker, Ulrich

Die Kripo Stuttgart hatte eine Sonderkommission eingerichtet, die Sonderkommission Sabine. Eine heiße Spur gab es zunächst nicht, aber die Kripo veranlasste bereits am ersten Tag nach der Entführung der neunjährigen Polizistentochter, dass der Stuttgarter Westen mit mehr als 600 Polizisten durchkämmt wurde. In größter Geschwindigkeit wurden Flugblattaktionen und Lautsprecherdurchsagen organisiert.

Es war nicht nur in der Kripo Stuttgart eine hohe Motivation zu spüren: Die gesamte Polizei, alle, die in die Such- und Fahndungsaktionen, Befragungen der Bürger im Stuttgarter Westen involviert waren, erledigten ihre Arbeit mit größtem Engagement.

Später folgten auch noch Taucheinsätze im Feuersee und vieles mehr. Es wurde ein Kind vermisst und wahrscheinlich entführt. Deshalb wollte die Polizei im gesamten Verlauf der Ermittlungen und Untersuchungen einfach nichts außen vor lassen.

Der Mann behauptete, er sei Kinderarzt

Die Bevölkerung im Stuttgarter Westen war in Sorge. Eine erste heiße Spur erreichte die Soko am 19. Juli – ein angeblicher Kinderarzt. Eine Mutter berichtete von einer Begegnung ihrer Tochter, etwa eine Dreiviertelstunde vor Sabines Verschwinden. Das ebenfalls neunjährige Kind hatte sich in einer Bäckerei ein Stückchen gekauft und ging das süße Teil essend nach Hause.

Auf dem Heimweg wurde es von einem Mann angesprochen, der sich als Kinderarzt Dr. F. vorstellte. Er bediente sich damit einer Legende, weil ein solcher Kinderarzt mit diesem Namen tatsächlich in der Nähe eine Kinderpraxis führte. Er bat das Mädchen, ihm den Weg zum Westbahnhof zu zeigen und versuchte dabei wohl auch, es am Arm zu fassen.

Er habe Arznei dabei und müsse sie dringend zu einem Patienten bringen. Das Mädchen bekäme für seine Hilfe auch zehn Mark. Weil das Mädchen aber den richtigen Kinderarzt Dr. F. persönlich kannte, rannte es, so schnell es konnte, nach Hause, wo es seiner Mutter außer Atem das Erlebte erzählte.

Dieses Phantombild soll den möglichen Täter zeigen.
Dieses Phantombild soll den möglichen Täter zeigen. | Bild: Archiv

Die Mutter tröstete ihr Kind, nahm aber seine Geschichte zunächst nicht so ernst. Das änderte sich schlagartig, als sie mitbekam, dass am Rosenbergplatz die neunjährige Sabine H. entführt worden war. Das Mädchen konnte eine recht gute Personenbeschreibung abgeben. Der Täter soll um die 40 Jahre alt sein, 170 bis 180 Zentimeter groß, schlank, hellbraune Haare, die seltsam nach vorne gekämmt waren, schwäbisch sprechend und eine auffallend große Sonnenbrille.

Außerdem war dem Mädchen ein Siegelring mit blauem Stein und Zigaretten in einer rotweißen Schachtel aufgefallen. Die Aussage wurde vom ersten Moment an als glaubhaft eingestuft, weil es die Geschichte der Mutter erzählt hatte, bevor der Vermisstenfall medial entsprechend nach außen drang.

Mehr als 600 Hinweise gab es

Die Soko arbeitete auf Hochtouren. Alles, was man sich nur vorstellen kann, wurde bewegt, bei jedem noch so kleinen Verdacht sofort nachgefasst. Eine Woche nach der Entführung verfügten wir über ein Phantombild des Tatverdächtigen, das damals ein pensionierter Kollege nach Angaben des Mädchens gefertigt hatte. Das Phantombild wurde natürlich auch wieder im Stuttgarter Westen plakatiert, verteilt und an sämtliche Medien weitergeleitet.

Die Zeit drängte, und wir wussten, dass mit jedem Tag die Wahrscheinlichkeit sank, das Opfer lebend zu finden. Während der Zeit, in der ich mit an Bord war, ging die Soko mehr als 600 Hinweisen nach. Der Soko-Leiter trat im damaligen SDR-Fernsehen auf, Spuren in jeder Richtung wurden angelegt. Es gab Alibi-Überprüfungen von polizeibekannten Straftätern, die in ein vorgegebenes Muster passten.

Spurenteams arbeiteten Hinweise aus der Bevölkerung ab: Nichts blieb außen vor, alles kam immer wieder auf den Prüfstand. Auch bei den täglichen Besprechungen wurden alle in Verantwortung genommen. Haben wir etwas vergessen? Hat jemand eine Idee?

Die Spurenverwaltung erfolgte seinerzeit noch mit Karteikarten und einem für heutige Verhältnisse unflexiblen Spurenverwaltungssystem auf EDV-Basis. Künstliche Intelligenz gab es noch nicht. Umso mehr beeindruckte mich die Leidenschaft, mit der die Kolleginnen und Kollegen der Kripo ihre Arbeit erledigten.

In sehr positiver Erinnerung blieb mir der Leiter des Morddezernats Josef Kögel, der über Jahre hinweg an diesem Fall dran blieb und nach meiner damals noch bescheidenen Expertise ein ausgesprochen erfahrener Kriminalist war. Der Tagesablauf bestand darin, Spuren nachzugehen, Kolleginnen und Kollegen zu helfen, verbunden mit dem Willen, Sabine zu finden. Das Privatleben reduzierte sich auf Schlafen, Duschen, Essen. Mehr nicht.

Ich ging nach einer intensiven Phase bei der Kripo Stuttgart nur sehr ungern zu meinem nächsten Ausbildungsmodul. Denn die Ermittlungen der Kripo gingen natürlich weiter. Am 7. November 1985 gab die Soko bekannt, dass sie über eine längere Zeit eine heiße Spur verfolgt hatten. Diese hatte die Kripo nicht in die Öffentlichkeit gespielt, um die Ermittlungen nicht zu gefährden.

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In Leonberg hatte eine ältere Frau am Tattag aus dem Fenster einen VW-Bus beobachtet, in dem sie einen nackten Kinderkörper hinter dem Fahrersitz gesehen haben wollte. Sie erinnerte sich auch noch an ein Teilkennzeichen. Das Kennzeichen soll mit den Buchstaben PF – also Pforzheim – beginnen. Bei der Spur spielte zudem ein Linienbus eine Rolle und die Zeit, an der er an einer Haltestelle stand. Alles in allem plausibel in Relation zur Tatzeit.

In der Folge ging die Kripo im Raum Pforzheim unter einer Ermittlungslegende auf etwa 2500 Halter eines VW-Busses zu. Ohne Erfolg. Erst 1986, nämlich im Dezember, kam eine neue Spur dazu, aber zunächst ohne Wissen der Kripo Stuttgart. Nahe Bamberg fand man im Zuge einer Treibjagd menschliche Knochen, die zunächst als weiblich und 15 bis 18 Jahre alt identifiziert wurde. Ein Fehler, wie es sich fast ein Jahr später, im Herbst 1987, herausstellen sollte.

Die Leiche wurde gefunden

Die Kripo Bamberg veranlasste im Zuge einer Vermisstenfahndung nach einer 17-Jährigen, das beim Landeskriminalamt Bayern gelagerte Skelett noch einmal zu untersuchen. Dabei wurde festgestellt, dass es sich bei der Toten um ein acht bis zwölf Jahre altes Mädchen handeln könnte. Das wiederum passte mit dem Vermisstenfall aus Bamberg nicht zusammen. Aber es brachte jemand anderen wieder auf die Spur.

Das neue Untersuchungsergebnis wurde initiiert von der Bayrischen Polizei im März 1988 im BKA-Blatt veröffentlicht. Der Stuttgarter Leiter des Morddezernats Josef Kögel wurde über das BKA-Blatt auf die Leiche aufmerksam und ging der Sache nach.

Ein acht bis zwölf Jahre altes Mädchen: Kögel kombinierte, dass es sich bei dem Fund bei Bamberg um die Überreste von Sabine Hammerich handeln könnte. Und er sollte Recht behalten. In München konnte man mit einem Haarvergleich mit 90-prozentiger Sicherheit die verbliebenen Skelettteile Sabine Hammerich zuordnen.

Mehr Gewissheit kam von der Universität Ulm. Ein an der Universität Ulm beschäftigter Osteologe konnte mithilfe der Skelettteile, das Gesamtskelett, Körper und Gesicht nachkonstruieren und erreichte eine Wahrscheinlichkeit von 99,7 Prozent, dass es sich um das Opfer aus Stuttgart handelte.

Täter dürfte heute mehr als 80 Jahre alt sein

Wenigstens konnte die Familie die Suche nach Ihrem Kind abschließen und trauern. Aber der Fall war nach wie vor offen und die Todesursache ungeklärt. Die Kripo startete neu durch und ging mit den neuen Informationen und Erkenntnissen an die Öffentlichkeit. Vor allem in und um Bamberg. Ohne Erfolg. Im Dezember 1988 wurde der Fall in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY“ ausgestrahlt.

Im Studio: der Erste Kriminalhauptkommissar Josef Kögel. Wieder spielte neben den Fallinformationen der Pforzheimer VW-Bus eine Rolle. In der Sendung wurde er dem falschen Kinderarzt zugeordnet, was die Polizei aber so bislang nicht wusste. Die Entführung und die VW-Busspur hatte sie deshalb immer getrennt betrachtet.

Nach Ausstrahlung der Sendung gab es für die Ermittler eine erstaunliche Wendung: Ein Autofahrer hatte sich gemeldet und zunächst nachgefragt, ob man nach dreieinhalb Jahren für zu schnelles Fahren noch bestraft werden könne. Dann gab er an, dass er zum Tatzeitpunkt an der Kreuzung am Rosenbergplatz vor einer roten Ampel stand.

Vor ihm: ein Mercedes. Dieser fuhr bei Grün zunächst los und stoppte dann grundlos. Der Autofahrer musste ausweichen und sah bei der Vorbeifahrt zum Fahrer, der auf ein Kind am Straßenrand starrte mit dunklen Haaren und einem gelben Kleid: eines, wie es Sabine am Tag ihrer Entführung getragen hatte.

Eine weitere Zeugin meldete sich und gab glaubhaft an, dass sie den vermeintlichen Kinderarzt zur Tatzeit in der Nähe des Tatortes gesehen habe. Nach ihrer Meinung habe er ein Toupet getragen. Zwei wichtige Spuren, die nach der zwischenzeitlich vergangenen Zeit schwer zu verifizieren waren. War der vermeintliche Kinderarzt Dr. F. der Täter? Wurde Sabine Hammerich tatsächlich in einem Mercedes entführt? Und welche Rolle spielt der graue VW-Bus?

Der Mord an Sabine Hammerich ist noch immer ungeklärt. Der Täter, der damals auf 40 Jahre geschätzt wurde, dürfte heute in seinen Achtzigern sein, sollte er überhaupt noch leben. Mich hat der Fall, wie einige andere auch, nie ganz losgelassen.

Das Bild des Mädchens in ihrem gelben Sommerkleid, mit ihren fröhlichen Augen und Tochter eines Kollegen. Bei dem Mord an Sabine Hammerich handelt es sich um einen nach wie vor ungeklärten Mordfall der Kripo Stuttgart und um einen der etwa 500 Cold-Case-Fälle, die in Baden-Württemberg noch auf ihre Aufklärung warten.